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Beschluss 2021/217

Fortschritt geht anders

Beschluss des Geschäftsführenden Parteivorstandes vom 25. Oktober 2021

Das Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP hat eine zentrale Botschaft: Die Absage an die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich wird nicht angetastet. Der FDP ist es gelungen in zentralen Politikfeldern ihre Position durchzusetzen.

Waren SPD und Grüne noch mit der Forderung in den Wahlkampf gezogen untere und mittlere Einkommen zu entlasten und im Gegenzug hohe Einkommen stärker zu belasten und eine Vermögenssteuer einzuführen, heißt es jetzt: Keine Steuererhöhung und keine Vermögensteuer. SPD und Grüne sind damit von wesentlichen Forderungen ihres Wahlprogramms abgerückt. Mit der Absage an eine Bürger*innenversicherung erhalten die privaten Versicherungen Bestandsschutz und die Zwei-Klassenmedizin wird zementiert.

Zwar hat die SPD ihre Forderung nach Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro durchsetzen können. Dies wird aber flankiert mit der Erhöhung der Mini- und Midijobgrenzen und der Erhöhung der Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV. Prekäre Beschäftigung wird damit nicht zurückgedrängt, stattdessen werden so Kombi-Lohn-Modelle und damit die Subventionierung nicht existenzsichernder Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet. Von einer Stärkung der Tarifverbindung wird nur in wolkigen Formulierungen gesprochen, die konkrete Forderung nach einer Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen findet sich nicht. Die tägliche Höchstarbeitszeit soll über tarifvertragliche oder betriebliche Vereinbarung über das bislang gesetzlich zulässige Maß von zehn Stunden ausgeweitet werden. Damit wurde eine langjährige Forderung der Unternehmerlobby wie der Dehoga erfüllt.

Hartz IV soll künftig Bürgergeld heißen. Zwar bleibt die konkrete Ausgestaltung noch im Vagen. Bereits jetzt kann aber schon festgestellt werden: An „Mitwirkungspflichten“ und damit am Sanktionsregime soll festgehalten werden. „Geprüft“ werden soll lediglich eine Weiterführung von Erleichterungen während der Pandemiezeit bei Schonvermögen und der Übernahme von Wohnkosten. Von der dringend notwendigen Erhöhung des Regelsatzes ist keine Rede. Eine Überwindung von Hartz-IV ist damit nicht in Sicht.

Das Rentenniveau soll wie von der SPD im Wahlkampf gefordert auf 48 Prozent stabilisiert und das Renteneintrittsalter nicht erhöht werden. Aber statt das Umlagesystem zu stärken um das Rentennivau zu erhöhen, soll in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung eingestiegen werden. Dazu soll der DRV ein Kapitalstock von 10 Mrd. Euro zugeführt werden und die Möglichkeit zur Anlegung der Rücklagen der Rentenversicherung an den Kapitalmärkten geschaffen werden. Statt die Rente sicher zu machen, wird sie damit den Risiken der Finanzmärkte ausgesetzt.

Zu den dringend notwendigen Reformen  im Gesundheitssystem findet sich die Forderung nach einer „Offensive für mehr Pflegepersonal“ und „angemessene Löhne“.  Das Fallpauschalensystem soll lediglich für ausgewählte Bereiche wie Geburtshilfe und Notfallversorgung modifiziert werden. Damit bleibt das verfehlte, nicht an medizinischen Notwendigkeiten, sondern betriebswirtschaftlichen Kennziffern orientierte Finanzierungssystem weitgehend unangetastet. Wie auf diese Weise eine „Offensive für mehr Pflegepersonal“ und „angemessene Löhne“ gelingen soll, bleibt ein Rätsel.

 

Die soziale Ausgestaltung des Bereichs Mieten, Mieter/innen-Schutz und Mietregulierung fehlt. Keine entsprechende Wahlkampfforderung von SPD und Grünen bildet sich im Sondierungspapier ab. Es wird ein „Weiter so“ geben und der Mietenwahnsinn bleiben. Auch wird die Ausgestaltung evtl. Klimaschutzmaßnahmen – Stichwort Beschleunigung der energetischen Sanierung“ – weiterhin ein Einfallstor für Mietsteigerungen sein. Somit werden Klimaschutzmaßnahmen gegen bezahlbares Wohnen ausgespielt.

 

Im Sondierungspapier ist der Satz enthalten: „Auch mehr als 30 Jahre nach der friedlichen Revolution bleibt es unveränderte Aufgabe, die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden.“ Die drei Parteien treffen jedoch keinerlei Aussagen darüber, welche Ursachen es dafür gibt, dass dies nach 30 Jahren immer noch nicht geschehen ist und wie sie diese Aufgabe bewältigen wollen. Es gibt weder strukturpolitische Vorschläge zur Überwindung der Einkommenskluft zwischen Ost und West noch werden Aussagen zur Benachteiligung Ostdeutscher im Rentensystem getroffen. Der völlige Verzicht auf eine steuerpolitische Umverteilung von oben nach unten und auch zu Ungunsten der öffentlichen Daseinsvorsorge lässt eher befürchten, dass die strukturellen und demografischen Probleme des Ostens schon aufgrund fehlender öffentlicher Ressourcen weitere 4 Jahre nicht angepackt werden.

 

Zwar bekennt sich das Sondierungspapier zum 1,5 Grad Ziel. Die erneuerbaren Energien sollen schneller ausgebaut werden und der Kohleausstieg nicht verbindlich, sondern „idealerweise“ auf 2030 vorgezogen werden. Ein klar definierter Ausstiegspfad ist so nicht erkennbar, dabei wäre dies sowohl für Beschäftigte, die betroffenen Regionen und Unternehmen wichtig. Die Absicht wasserstoffkraftfähige Gaskraftwerke zuzubauen konterkariert die Klimaschutzziele – allein schon wegen der langen Abschreibungszeiträume. Die Nutzung von Wasserstoff muss unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz auf das absolute Minimum begrenzt werden.

Im Verkehrssektor beschränkt sich das Papier auf eine (zeitlich) gestreckte Antriebswende. Spätestens 2035 sollen nur CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen werden. Dabei soll – dem FDP-Dogma von der Technologieoffenheit folgend die Verwendung synthetischer Kraftstoffe zugelassen werden, deren Produktion mit einem extrem hohen Energieaufwand verbunden ist. Zudem müsste neben der Elektromobilität dafür eine zweite, parallele Infrastruktur aufgebaut werden. Details zur Bahnpolitik spart das Sondierungspapier aus, wie auch zu anderen Themen zentralen Themen der Verkehrswende. Dafür aber hat die FDP ein generelles Tempolimit verhindert. Das schwache Klimaschutzgesetz der Großen Koalition wird nochmal aufgeweicht, wenn – wie im Papier vereinbart - die Nichterfüllung von Zielen in einem Sektor durch Übererfüllung in anderen Sektoren kompensiert werden kann. Die soziale Dimension der Klimapolitik wird im Papier nahezu völlig ausgespart. Dabei ist die sozial gerechte Ausgestaltung der sozial-ökologischen Transformation eine wesentliche Voraussetzung für ihr Gelingen. Eine wirkliche sozial-ökologische Transformation und das 1,5 Grad-Ziel wird so nicht erreicht werden können

 

Für die notwendigen Investitionen in den ökologischen Umbau sollen weder die Schuldenbremse reformiert noch Steuern erhöht werden. Einer (auch aus Gründen der Gerechtigkeit) notwendigen Umverteilung privaten Reichtums wird eine klare Absage erteilt. Wie die notwendigen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur unter diesen Bedingungen finanziert werden sollen, bleibt rätselhaft und ist – wie sich jetzt schon andeutet, ein Konfliktthema in den Koalitionsverhandlungen.

Bei der öffentlich diskutierten Nutzung der Ausnahmeregelung während der Pandemie, um nochmal in großem Umfang Kredite aufzunehmen und die aufgenommenen Mittel einem Investitionsfonds zuzuführen ist fraglich, ob dies mit der FDP machbar ist und ob eine solche extensive Ausweitung der Ausnahmeregelung verfassungsrechtlich Bestand hat. Zudem müsste eine solche Kreditaufnahme mit einer Tilgungsverpflichtung verbunden sein, was den künftigen Haushaltsspielraum wieder einengen würden.

Die Nutzung von Kreditaufnahme außerhalb des Bundeshaushalts über bundeseigene Gesellschaften (z.B. der Deutschen Bahn) oder neu gegründete Investitionsgesellschaften bzw. Fonds ist grundsätzlich eine Möglichkeit. Sie wirft aber eine Reihe von Fragen auf, u.a. nach der parlamentarischen Kontrolle, wenn außerhalb des Haushalts finanziert wird. Die Kreditaufnahme über öffentliche Gesellschaften/Fonds ist grundsätzlich als mit der Schuldenbremse vereinbar ausgestaltbar. Die Vereinbarkeit mit dem Europäischen Stabilitätspakt stellt sich jedoch wesentlich schwieriger dar. Insbesondere besteht die Gefahr, dass die FDP sich für die Nutzung privaten Kapitals im Rahmen von ÖPP-Modellen stark macht. Der Finanzmarktkapitalismus würde damit eine neue Stufe erreichen.

Von der FDP wird vor allem der Weg über den Abbau von Subventionen und die Steigerung privater Investitionen favorisiert zu werden. Private Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz sollen über eine „Superabschreibung“ gefördert werden. Beschleunigte Abschreibung kann zwar ein Instrument zum Anreiz privater Investitionen sein. Sie bedeuten aber eine Reduzierung des bilanziellen Gewinns und reduzieren damit die zu zahlenden Steuern. Ohne Gegenfinanzierung führt dies Mindereinnahmen im öffentlichen Haushalt.

Mit dem Bekenntnis zum Europäischen Stabilitätspakt in seiner gegenwärtigen Form wendet sich das Papier gegen Bestrebungen in der Europäischen Kommission und einer Reihe südeuropäischer Länder (u.a. Frankreich), den Pakt zu reformieren. Würde der Pakt in seiner gegenwärtigen Form umgesetzt, würde er die südeuropäischen Länder zu massiver Austerität verpflichten. Auch in Deutschland ist im Lichte des Sondierungspapiers zu befürchten, dass Sozialkürzungen und eine noch stärkere Ausrichtung staatlicher Politik an den Bedürfnissen der Wirtschaft drohen.

 

Im Sondierungspapier zeigt sich, dass die zukünftige Ampelkoalition mit Abrüstung nichts am Hut hat, im Gegenteil: Es wird eine verstärkte Zusammenarbeit der Armeen auf europäischer Ebene vereinbart, es gibt keine Aussagen zu Atomwaffenabzug, zur Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags und insbesondere gibt es eine Zusage auf weiterhin steigende Militärausgaben für die Bundeswehr. Es wird keine "restriktive Rüstungsexportpolitik" geben, da eine "entsprechende EU-Rüstungsexportverordnung" auf die EU-Ebene geschoben wird und dort auf dem Niveau anderer Staaten wie zum Beispiel Frankreich verharren wird. Der eigentlich zwischen den früheren Oppositionsfraktionen (FDP, LINKE, GRÜNE) vereinbarte Untersuchungsausschuss "Afghanistan" wird sich ausschließlich auf den letzten Bundeswehr-Einsatz in Kabul beziehen und nicht auf die Afghanistan-Einsätze der letzten 20 Jahre, dafür soll es lediglich eine Equete-Kommission geben.

 

Bei gesellschaftspolitischen Themen sind einige Fortschritte zu verzeichnen. So sollen das Familien- und Abstammungsrecht und das Transsexuellengesetz  reformiert werden. In der Migrations- und Asylpolitik soll ein Spurwechsel ermöglicht und eine begrenzte Arbeitsmigration im Rahmen eines Punktesystems ermöglicht werden. Auf der anderen Seite aber werden die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die damit einhergehende Spaltung in Arm und Reich nicht angegangen. Aber ohne diese Ungleichheit zu bekämpfen kann und wird es keine gesellschaftlichen Aufbruch geben können. Das weitere Festhalten an dieser Ungleichheit verfestigt gesellschaftliche Spaltungen und droht Demokratie zu unterminieren. Auch wenn Sondierungspapiere noch keine Koalitionspapiere sind ist jetzt schon einiges klar: Die Politik der Ampelkoalition bedeutet im sozialen Bereich vor allem ein „Weiter so“, bleibt in der Klimapolitik weit hinter den Notwendigkeiten zurück und verfestigt die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich.