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Alexis Tsipras

Europa wird demokratisch, sozial und solidarisch sein oder nicht existieren

Alexis Tsipras, Vorsitzender der Linksfraktion SYRIZA im griechischen Parlament, beim Politischen Jahresauftakt der Partei DIE LINKE und der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag im Berliner "Kosmos"

Ich möchte mich bei der LINKEN für die Einladung und die Solidarität sehr bedanken, Gregor Gysi herzlich zum Geburtstag gratulieren und auch allen Parteimitgliedern hier danken, dass sie zeigen, dass nicht alle Politiker in Deutschland so sind wie Merkel. Gregors Reden im Parlament sind in Griechenland sehr populär. Er ist der einzige gewählte Vertreter, der die Wahrheit in den Augen des griechischen Volkes verteidigt.

In den letzten Jahren versucht man in Griechenland wie auch in Deutschland die Menschen zu überzeugen, dass das Märchen von der Grille und der Ameise gilt und wahr ist: Es ist ein Märchen über die arbeitsamen, die strebsamen Ameisen, die den ganzen Sommer über arbeiten, während die Grillen schlafen. So hat man uns gesagt, dass Europa im Norden von Ameisen und im Süden von Grillen bewohnt wird. Wir wurden allerdings belogen, weil ganz Europa in seiner ganzen Breite und Länge sowohl von Ameisen wie von Grillen bewohnt wird. Im Norden, hier in Deutschland, arbeiten die Ameisen sehr hart, und seit über zehn Jahren haben sie keine Lohnerhöhung mehr gesehen. Während die Grillen – die Bankiers und die Kapitalisten – ihren Profit verdoppelt und verdreifacht haben, während im Süden, in Griechenland und in den südlichen Ländern, die Ameisen sehr hart arbeiten. In Griechenland sind die Arbeitnehmer die mit den meisten Arbeitsstunden, während die Grillen von ihrem Schweiß profitieren und Milliardenbeträge erhalten. Und jetzt zu Zeiten der Krise wird den Ameisen im Norden gesagt, jetzt in der Krise müsst ihr von dem harterarbeiteten Geld etwas an eure Brüder im Süden abgeben. Nur von all diesem Geld, was die Ameisen des Nordens zahlen, geht kein einziger Euro an die Ameisen des Südens, sondern an die Grillen des Nordens und des Südens. Das ist die tatsächliche Dimension dieses Märchens heute in Europa.

Die Entscheidung für Autorität zur Überwindung der Krise erweist sich als katastrophal. Die Medizin erweist sich schlimmer und schmerzhafter als die Krankheit an sich. Und so verbleibt die Krise nicht in den Ländern der Peripherie, sondern sie schlägt im Herz der Euro-Zone zu, was wiederum die Analysen der Europäischen Linken wahr erscheinen lässt. Wir redeten über eine Systemkrise und eine Krise der Architektur, auf der diese aufgebaut wurde. Griechenland wurde auserkoren, ein Versuchskaninchen zu sein.

Leider sind die Konsequenzen in meinem Land zwei Jahre nach Anwendung der Autorität tragisch. Wir befinden uns vor sozialen Trümmern. Die Arbeitslosigkeit ist von 11 auf 24 Prozent angestiegen. Die offiziellen Zahlen zeigen, dass einer von zwei jungen Menschen von unter 24 Jahren arbeitslos sind. Tausende junger Wissenschaftler werden dazu gezwungen, das Land zu verlassen, während auf den Straßen sich die Obdachlosen häufen. Trotzdem besteht die Troika und die Regierung auf eine Weiterführung dieser Politik der harten Autorität mit weiterer Kürzung von Löhnen und Gehältern. Diese Politik ist jedoch nicht nur sozial ungerecht, sondern auch total ergebnislos. Die Staatsschulden sind in diesen Jahren nicht nur gesunken, sondern viel mehr rasant angestiegen. Um zu verstehen, wie man diesem Verfahren folgt, muss man schauen, welche Politik der Entstaatlichung im ehemaligen Ostdeutschland verfolgt wurde. Ihr Ziel ist eine Umgehung der verfassungsmäßigen Legalität, auf Gesetzgebungen auszuweichen und natürlich öffentliches Eigentum gegen einen sehr niedrigen Preis zu drücken. Der famose Schuldenschnitt in Griechenland hat sich bereits als ein Schiffbruch erwiesen. Dieses Verfahren wurde im vornherein von den Hatchfonds sabotiert. Da ein Schuldenschnitt von 50 Prozent vorhergesehen war, haben sie auf dem Sekundärmarkt Staatsanleihen zu 30 Prozent des Preises gekauft, so dass diese bei einem Schuldenschnitt von 50 Prozent 20 Prozent Profit erlangen, gleichzeitig zur Weiterführung dieses Verfahrens, dass bestenfalls 100 Milliarden Euro von den griechischen Staatsschulden reduzieren wird. Es sind gleichzeitig die unmittelbaren 90 Milliarden Euro an Darlehen erforderlich, die vom IMF kommen werden. Und all das im besten Fall. Das heißt, wenn die Situation stabil bleibt, was nicht zu erwarten ist, und wenn an diesem Verfahren auch von Allen teilgenommen wird, so wird Griechenland im Jahr 2020 Staatschulden von 120 Prozent des BIP haben nach einem langjährigen Zeitraum von Autorität. Das heißt, die Staatsschulden werden auch dann nicht nachhaltig sein. Davon möchte ich eines betonen: Von all diesem Geld, dass nach Griechenland fließen wird, wird kein einziger Euro in die Realwirtschaft fließen. 40 Milliarden werden in die Banken fließen, 30 Milliarden für die Inhaber von Staatsanleihen sein und 20 Milliarden unmittelbar für ablaufende Staatsanleihen. Die Verhandlungen finden jedoch zurzeit statt, und alles sieht danach aus, als ob man keine Einigung erreichen wird. Das Wahrscheinlichste ist die sogenannte geregelte Insolvenz von Griechenland innerhalb des Euro.

Bitten gestatten Sie mir jedoch zwei Sachen zu sagen, um zu verstehen, was ist das für ein Land, das in Insolvenz geht: Griechenland war das Land mit dem größten Wachstum in Europa bis zum Jahr 2005. Selbst heute, wo es kurz vor der Insolvenz steht, gehört es zu den 30 reichsten Ländern der Welt. Es hat den ersten Platz in der internationalen Schifffahrt. Es hat die größte kommerzielle Handelsflotte. Das BIP meines Landes ist in den letzten zehn – von 1998 bis 2008 – um 50 Prozent angestiegen. Wo ist denn all der Reichtum hin? Ist das in Sozialleistungen geflossen? Sie die Löhne oder die Renten gestiegen? All dieser Reichtum ist in die Taschen von Bankiers und Kapitalisten geflossen, die ihn jetzt wiederum in die Banken der Schweiz und Deutschlands transferieren. Wir hatten über all diese zehn Jahre des Wachstums die ungerechtesten Wachstumsverteilung und die ungerechteste Besteuerung in ganz Europa. Wir haben das schlechteste Verhältnis von indirekten zu direkten Steuern in ganz Europa. Dies führte dazu, dass die Staatseinnahmen den Ausgaben immer hinterhergehinkt haben.

Und dann möchte ich noch ein Beispiel nennen, damit mein Freund Gregor es auch erzählen kann, denn er erzählt ja dauernd über diese Familien, die 80 Prozent des Reichtums haben: Die griechischen Schifffahrtsgesellschaften, die 50 Prozent des Erdöls transportieren, das China importiert, sind sehr reiche Unternehmen, sehr reiche Menschen, zahlen insgesamt jährlich an dem griechischen Staat an Steuern 15 Millionen Euro. Gleichzeitig bezahlen die Migranten Gebühren für ihre Aufenthaltserlaubnisse in Höhe von ca. 50 Millionen Euro. Die Schifffahrtsgesellschaften haben 58 unterschiedliche Steuerbefreiungen, während der Prozentsatz der Schwarzwirtschaft bei ca. 30 Prozent des BIP liegt.

Warum erzähle ich das? Um Ihnen zu zeigen, dass das wahre Problem Griechenlands, das wahre Problem Europas nicht die Staatsschulden sind. Die Staatsschulden sind ein Instrument zur Auferlegung von Klassenpolitik und aus Loyalitätsmaßnahmen. Die Staatsschulden sind ein Instrument, um die demokratischen Errungenschaften und den gesellschaftlichen Vertrag in Europa abzuschaffen. Das Problem ist Neoliberalismus. Das Problem ist die Autorität. Das Problem ist die ungerechte Reichtumsverteilung. Das Problem ist die Politik, die von Merkel und Sarkozy verfolgt wird. In der Krise befinden sich also nicht Griechenland und die Länder der Peripherie, sondern in der Krise befindet sich der Euro und die Architektur, auf der dieser aufgebaut wurde sowie der Kapitalismus. Durch die Ratingagenturen und die Märkte ist natürlich keine Lösung zu erwarten, sondern von den politischen Kräften, die sich mit den Politiken des Neoliberalismus konfrontieren werden. Von den politischen Kräften, die sich zusammen mit den Völkern Europas den Ratingagenturen und den Märkten das Prädikat Ramsch geben werden, die ein Rating von drei A der Gesellschaft geben werden. Die reiche griechische Sprache hat drei Wörter, die mit A beginnen: Solidarität, Wachstum, Beschäftigung. Diese drei A sind das Rating, was die Gesellschaft braucht. Wir sollen uns der autokratischen Föderalisierung Europas und dem Zusammenschrumpfen der Demokratie entgegenstellen. Wir sollen das Finanzsystem in den Dienst der Gesellschaft, nicht des Profits stellen. Wir sollen das Reichtum besteuern und nicht die Armut. Vielleicht ist auch der Mangel der Erfolg des Schuldenschnittes in Griechenland auch ein guter Anlass, um das Problem in Griechenland in seine wahren Dimensionen zurückzusetzen. Wir sollen eine andere Rolle für die Europäische Zentralbank fordern, so dass diese direkt an Staaten und nicht an private Banken Geld leiht. Wir sollen en Mehr-Parteien-Treffen für die Zukunft Europas fordern, nach dem Vorbild des Abkommens, dass es 1953 für Deutschland gegeben hat, als 50 Prozent der Schulden gestrichen wurden und die restlichen zurückbezahlt wurden, aber nur unter der Voraussetzung, dass man Wachstum in der Wirtschaft hat.

Liebe Genossen, in Griechenland haben wir einen sehr wichtigen Intellektuellen. Er lebt leider nicht mehr, Nicos Poulantzas. Er hat in den 70er Jahren sehr prophetisch gesagt, dass der Sozialismus entweder demokratisch sein wird oder nicht existieren wird. Heute können wir sagen, dass das vereinigte Europa entweder demokratisch und solidarisch sein wird oder nicht existieren wird. Lasst uns also alle zusammen kämpfen, damit es dieses Europa geben wird, mit unserer Vision des Sozialismus.

Vielen Dank!