Zum Hauptinhalt springen
betrieb & gewerkschaft

Streiken gegen den Pflegenotstand

Jan Latza

Tarifbewegung für mehr Personal im Krankenhaus macht bundesweit Schule

Im April 2016 wurde an der Berliner Charité nach einer fast dreijährigen Auseinandersetzung der erste Tarifvertrag für mehr Personal in einem deutschen Krankenhaus erstreikt. Mit der erfolgreichen Tarifbewegung für mehr Personal hat ver.di an der Charité Pionierarbeit geleistet. Unter dem Motto „Mehr von uns ist besser für Alle!“ wurde zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Gesundheitssystems für mehr Personal gestreikt. Durch ihre Kämpfe und Streiks haben die ver.di-Aktiven an der Charité in den letzten Jahren wichtige Beiträge zur gewerkschaftlichen Erneuerung in Krankenhäusern geleistet: Die Entwicklung des Betten- und Stationsschließungsstreiks, die Tarifbewegung für mehr Personal, das dazu entwickelte Model der TarifberaterInnen sowie die Unterstützung durch ein Bündnis haben gezeigt, dass machtvolle Streiks auch im Krankenhaus möglich sind. Auf dieser Grundlage wird in den nächsten Monaten bundesweit in vielen Krankenhäusern für mehr Personal gekämpft – und gestreikt.

Die Charité als Laboratorium für gewerkschaftliche Erneuerung

Die erkämpfte Personalbemessung per Tarifvertrag ist ein ermutigendes Signal in die ganze Republik: Es ist möglich, sich aktiv gegen den Pflegenotstand zu wehren – gemeinsam! Durch die an der Charité entwickelte Strategie des Betten- und Stationsschließungsstreiks sind KrankenpflegerInnen erstmalig in großer Zahl zu aktiven und mächtigen Subjekten des Streiks geworden. Es ist paradox: Erst die Ökonomisierung der Krankenhäuser versetzt Pflegekräfte in die Lage, durch gesperrte Betten und geschlossene Stationen erheblichen wirtschaftlichen Druck aufzubauen. Beispielsweise waren während des elftägigen Streiks im letzten Jahr 1.000 der insgesamt 3.000 Betten der Charité gesperrt, wodurch Einnahmeverluste von einer halben Million Euro pro Tag entstanden sind.

Grundlage für den Erfolg der Tarifbewegung war ein neues Modell gewerkschaftlicher Beteiligung, das im Laufe der Auseinandersetzung entwickelt wurde: Durch regelmäßige Treffen von Stations-Delegierten (TarifberaterInnen) konnte die aktive Basis stark verbreitert und so die Durchsetzungsfähigkeit von ver.di gestärkt werden. Ein weiterer bedeutender Faktor in der Auseinandersetzung war die öffentliche Unterstützung durch das Bündnis „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“, das mit Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen die Charité-Beschäftigten fast drei Jahre in ihrer Auseinandersetzung begleitet hat.

Der Funke springt über!

Die Impulse der Charité wurden bereits letzten Herbst im Saarland aufgenommen, wo seitdem die Vorbereitungen für einen landesweiten Tarifvertrag laufen, der möglichst in allen 21 saarländischen Krankenhäusern durchgesetzt werden soll. Dafür wurden bereits 300 TarifberaterInnen in den Krankenhäusern gewonnen, die in den nächsten Monaten die Tarifbewegung ins Rollen bringen werden. Auch ein saarländisches Bündnis für mehr Krankenhauspersonal hat sich gegründet. Streiks sind für den Herbst zu erwarten. Verstärkt durch die Entwicklungen im Saarland ist bundesweit eine beachtliche Dynamik entstanden. In vielen Städten und Regionen organisieren sich derzeit die Beschäftigten und bereiten sich auf eigene Kämpfe für Entlastung und mehr Personal vor, u.a. in Hamburg und verschiedenen Städten in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern.

Die bevorstehenden Auseinandersetzungen bieten uns Linken (mit und ohne Parteibuch) eine Chance: Die Pflegestreiks sind Klassenkämpfe für das Allgemeinwohl und auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Überall wo sie organisiert werden, sind wir aufgefordert, uns daran zu beteiligen. Breite Bündnisse, die sich in der Öffentlichkeit unübersehbar und unüberhörbar für mehr Personal in Krankenhäusern einsetzen, sind aufzubauen. Wir alle sind potenzielle PatientInnen und müssen deutlich machen: Nicht der Streik gefährdet die Sicherheit der PatientInnen, sondern der gegenwärtige Normalzustand!

Jan Latza ist aktiv in der LAG Betrieb & Gewerkschaft Berlin und u.a. im Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus