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Susanne Hennig-Wellsow

Mehr LINKE wagen

Rede zum Politischen Jahresauftakt 2022

Liebe Genossinnen und Genossen,

ein Jahr ist vorbei und ein neues hat begonnen. Normalerweise beginnen wir das mit einem Zusammensein, mit einem Getränk, einer schönen Versammlung oder Veranstaltung. Wir blicken uns in die Augen, schauen zurück, aber schauen vor allem nach vorne. All das geht schon wieder nicht, denn ich schaue hier maximal in eine Kamera und ins Internet. Und ich sage euch, das nervt.

Ja, wir haben in diesen Corona-Zeiten gelernt, dass eine Video-Konferenz manchen Kilometer spart, aber wir haben auch spüren müssen, dass uns das Gespräch, die Umarmung, das abendliche gemeinsame Bier oder der Plausch fehlt.

Uns fehlt das alles, weil Linkssein eben auch heißt gemeinschaftlich sein, weil wir die Zusammenkunft brauchen, um unsere Politik zu diskutieren. Daher hoffe ich, dass wir uns im Juni in Erfurt auf unseren Parteitag endlich wieder alle zusammen sehen und es miteinander besser haben können. Zumal wir viel zu besprechen, aufzuarbeiten und zu klären haben.

Gerade weil wir uns in so einer schwierigen Situation befinden bin ich froh, dass sich Menschen wie Gerhard Trabert mit uns und für uns engagieren!

Ja, unser Kandidat zum Bundespräsidenten Gerhard Trabert ist ein Mensch der Tat. Er erinnert uns an den Satz des „kleinen Prinzen“ von Saint-Exupéry: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Deswegen freue ich mich sehr, dass er unseren Vorschlag zu kandidieren angenommen hat.

Gerhard hat sich eben vorgestellt und gesagt, was er macht und wofür er steht. Er kümmert sich um jene, um diese sich in diesem Land viel zu wenig kümmern. Und gerade in dieser Corona-Zeit ist das so verdammt wichtig. Denn vergessen wir nicht: Wir sagen uns, dass wir uns schützen und möglichst zuhause bleiben sollen. Aber es gibt eben jene, die kein zuhause haben und die von nichts fernbleiben können, weil sie eben nichts haben außer ihrem nackten Leben. Es gibt die, die alles hinter sich gelassen haben, weil sie fliehen mussten und die jetzt hier sind oder hierherkommen möchten. Um all die kümmert sich Gerhard Trabert. Ihnen begegnet er mit Respekt und hilft ihnen Mensch zu sein. Er tut das nicht nur in Deutschland, sondern auch auf dem Balkan, in Syrien und auf dem Mittelmeer.

Ja, Gerhard zeigt uns in seiner Arbeit, dass in unserem Land tagtäglich die Würde von Menschen verletzt wird. Aber er sagt uns damit auch, wofür wir da sind, liebe Genossinnen und Genossen: Wir sind nicht für uns da, sondern wir sind für die Menschen im Land da. Und genau das sollte uns auch in diesem neuen Jahr leiten. Wir sind für die da, die nicht gehört und gesehen werden. Also hören wir ihnen zu und sprechen wir mit ihnen, wenn wir verstehen wollen, warum sie uns nicht mehr wählen oder eher uninteressant finden. 

Und ich möchte von meiner Seite auch noch einmal ganz ausdrücklich John McDonnell von Labour begrüßen, den ehemaligen Schatten-Schatzkanzler von Jeremy Corbyn. John steht auch für eine linke Politik des großen Herzens.

Auch Labour hatte schwerwiegende Wahlniederlagen zu verkraften. Und es ist ein schönes Zeichen der Solidarität, dass John heute zu uns spricht und uns Mut gibt, in unserer bescheidenen Situation.

Und Mut und Klugheit brauchen wir dringend. Wahlniederlage wirkt noch schwer nach. Wir sind eben nicht nur mit einem blauen Auge davongekommen.  Ein blaues Auge heilt von alleine. Wir aber wären um ein Haar aus dem Bundestag geflogen, nur die Direktmandatsklausel hat uns gerettet.

Da können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: wird schon wieder werden. Rosa Luxemburg hat uns schon 1915 etwas Wichtiges ins Stammbuch „Selbstkritik rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.“

Ja, wir brauchen mehr solidarische Selbstkritik und mehr Debatte. Wir müssen tatsächlich mutig jeden Stein umdrehen und dürfen dabei keine Angst haben. Und wir müssen uns vor Vereinfachungen hüten. Wo neben den Bundestagswahlen auch Landtagswahlen und/oder Kommunalwahlen stattfanden, sind die Wahlergebnisse unterschiedlich und müssen auch genau so betrachtet werden. In Berlin z.B. hatten wir ein desaströses Bundestagsergebnis, bei den Abgeordnetenhauswahlen aber bei den absoluten Stimmenergebnissen keine Verluste und bei den Kommunalwahlen (z.B. in Pankow) in absoluten Zahlen sogar leichte Gewinne. Das ist zumindest ein Indiz, dass die Wählerinnen und Wähler einen sehr genauen Blick auf uns haben, darauf was wir versprechen, was man uns glaubt und was wir leisten.

Viele haben sich nach den Bundestagswahlen zu Wort gemeldet. Das Wort „Erneuerung“ macht die Runde. Das heißt zuallererst, dass wir mit offenen Armen und offenem Herzen hinausgehen und hören, spüren, was die Menschen brauchen und von uns erwarten.

Eine Politik der verschränkten Arme, eine Wir-wissen-es-Haltung mag uns noch selbst eine gewisse Zeit mehr schlecht als recht ernähren, aber als Partei haben wir mit selbstgefälligen Gewissheiten weder eine Zukunft noch strahlen wir damit eine Neugierde aus. Und ich kann euch sagen: Wer nicht neugierig ist, der ist auch nicht einladend. Wer nicht offen für neue Ideen ist, der verstaubt schneller als er gucken kann und es selbst bemerkt.

Genau das, liebe Genossinnen und Genossen, genau das sollten wir sehr ernst nehmen. Denn nicht wir entscheiden über den Gebrauchswert linker Politik, sondern diejenigen, die uns wählen. Und wenn das immer weniger werden, dann sollten wir uns nicht sagen, dass unser Programm doch eigentlich das Beste ist. Denn, dass ist es ganz offensichtlich gerade mal für mehr oder weniger fünf Prozent der Wählerinnen und Wähler. Und machen wir uns auch nichts vor. Eine schwache LINKE im Bund macht unsere Landesregierungen in Bremen, in Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin und unseren einzigen linken Ministerpräsidenten in Thüringen auch nicht stärker. Ein schwache LINKE im Bund ist auch kein Rückenwind für die anstehenden Landtagswahlkämpfe.

Deswegen sollten wir ehrlich mit uns umgehen. Ehrlich, aber pfleglich. Das meint vor allem: kollektive Redlichkeit, auch in der Kritik. Hören wir uns mit aller Redlichkeit zu. Hören wir, was wir uns sagen und hören wir nicht nur, was wir hören wollen.

Wer kritisiert, dass wir bei den Wahlen zu wenige Stimmen unter Erwerblosen gewonnen haben, hat Recht. Wer kritisiert, dass wir unsere klimapolitischen Akzente nicht attraktiv genug gemacht haben, hat Recht. Wer fordert, das wir als LINKE klare Friedenspartei sein müssen, hat völlig Recht. Wer darauf hinweist, dass unser „JAIN“ zum Rettungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan ein Fehler war, hat aber auch Recht. Wer sagt, wir müssen unsere Ostidentität als LINKE zurückgewinnen, hat Recht und wer kritisiert, dass wir in westdeutschen Städten massiv an Grüne und SPD verloren haben, der hat ebenso Recht.

Wenn aber alle Recht haben, wer hat dann Unrecht?

Ich glaube Unrecht haben diejenigen, die jetzt meinen, nur allein noch mehr von ihrem eigenen Rechthaben bringt die Linke wieder nach vorne. Genau so geht es eben nicht. Wenn wir so streiten, dann streiten wir einen alten Streit weiter, den die Wählerinnen und Wähler längst entschieden haben. Sie wollen diesen Streit nicht mehr, weil er sie längst langweilt, weil er sie abstößt und weil er keinen Sinn hat. Er hat keinen Gebrauchswert für das alltägliche Leben und er macht auch keine gute Laune.

Sprechen wir uns also zuallererst nicht gegenseitig Moral und Würde ab. Wer über eine zeitgemäße linke Außenpolitik nachdenkt, überschreitet keine rote Linie. Wer über eine linke Klimapolitik nachdenkt, entfernt sich nicht vom Gründungskonsens der LINKEN, sondern erneuert ihn. Wer darüber nachdenkt, wie wir die Erwerblosen, die Politikverdrossenen, die Armen und abhängig Beschäftigten zurückgewinnen können, ist nicht konservativ, sondern ruft uns in Erinnerung, wofür und für wen die LINKE da ist. Wer sagt, dass wir älteren Genossinnen und Genossen mehr zuhören sollten, vergisst nicht die Jüngeren und deren Gründe Links zu sein. Und wer über Ostdeutschland spricht, sehnt sich nicht nach einer guten alten Zeit, sondern sagt uns, dass an vielen Orten im Osten die Rechten eben auch deshalb so stark sind, weil wir LINKE verloren haben. Auch das ist nicht rückwärtsgewandt, sondern brandaktuell.

Daher plädiere ich sehr dafür, dass wir in den kommenden Monaten unsere Erkenntnisse so zusammenführen, dass wir gemeinsam klüger werden und bringen wir sie so zusammen, dass wir im Land besser gehört und verstanden werden. Dafür haben wir eine Studie angestoßen, die untersucht, warum wir bei der Bundestagswahl nicht mehr gewählt wurden. Dafür sind Janine und ich in zahlreichen Gesprächen mit unseren Mitgliedern unterwegs.

Mir geht es dabei ums Zuhören, ums Verstehen. Mir geht es auch darum, dass man mir die Meinung sagen kann, dass unsere Genossinnen und Genossen sagen, was sie beschissen finden und warum. Wir brauchen das, weil wir nur so gemeinsam lernen und verstehen werden.

Gerhard Trabert verwendet immer wieder einen Begriff, den es im Deutschen eigentlich nicht gibt: „Gleichwürdigkeit“. Dieses Wort stammt von dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, den ich und wahrscheinlich einige kennen, die Kinder haben. Von Jesper Juul habe ich gelernt, dass ich in Konflikten, und die Kämpfe zwischen meinem Sohn und mir sind zuweilen nicht von Pappe, immer die Würde des anderen respektiere. Das gilt auch für die Politik. Würde braucht Respekt. Und ohne Respekt keine Würde. Freiheit ohne Würde geht nicht. Freiheit ohne die sozialen Voraussetzungen frei zu sein, aber auch nicht.
 

Deshalb zurück zu unseren Wurzeln und auf zu ganz Neuem:

Die LINKE befindet sich seit geraumer Zeit in der Krise. Der Kern dieser Krise ist die Unfähigkeit, die vielfältigen Blockaden und Formelkompromisse zu lösen, die eine pluralistische Partei wie von selbst produziert.

Der Marx´sche kategorische Imperativ „… alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, und eine Gesellschaft zu erkämpfen „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Kommunistisches Manifest, 1848), er gilt für uns noch immer.

Das ist nicht traditionalistisch, sondern zeitgemäß und aktuell. Es bedeutet: Gleichheit ohne Gleichmacherei, und Akzeptanz von Diversität. Für mich heißt es Kampf um Chancengleichheit, gleichen Zugang zu allen Möglichkeiten, die Menschen befähigen ihr Schicksal in die Hand nehmen zu können, ihr Glück zu finden und ihre Träume zu verwirklichen. Es ist der Kampf gegen soziale, rechtliche und ökonomische Ungleichheit der eben in unserer modernen globalkapitalisierten Gesellschaft untrennbar mit dem Kampf um Grund- und Freiheitsrechte verbunden sein muss. Um Respekt und Würde – ja, um eben genau: Gleichwürdigkeit. Der Aushandlungsprozess kann nur konfliktfähig und solidarisch zugleich sein, wenn es denn sich dem Ziel der freien Assoziation nähern soll. Angesichts von Pandemien, Naturkatastrophen und Klimawandel kann diese moderne Trikolore eine progressive Idee werden, um eine links-geprägte Diskussion für eine resiliente und sozial zusammenhaltende und zugleich widerstandsfähige Gesellschaft voranzubringen.

Es ist unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Menschen so sicher leben können, dass sie ihre Freiheit leben können. Und dafür dürfen wir niemals auf sie herabschauen oder ihre Würde vergessen. Niemals. Wir müssen so sprechen und handeln, dass sie uns verstehen. Und verstehen ist mehr als der Verstand. Es ist das Herz und der Bauch. Wenn wir denn Menschen das Gefühl zurückgeben, dass wir für sie da sind und nicht nur für uns, wenn sie uns wieder vertrauen, dass wir mit ihnen und für sie das Leben wieder besser machen können, dann wird die LINKE auch wieder wachsen.


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