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Halina Wawzyniak

Längst noch nicht reif für die Rente

Zum 60. Jahrestag des ersten Zusammentreffens des Parlamentarischen Rates erklärt die stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Halina Wawzyniak:

Am 1. September 1948 trat in Bonn der von den elf Ministerpräsidenten der deutschen Länder der westlichen Besatzungszonen auf Anweisung der drei Westmächte eingesetzte Parlamentarische Rat zusammen. Am Ende der Beratungen stand mit dem "Grundgesetz" eine vorläufige Verfassung für die zu gründende Bundesrepublik Deutschland, das bei Wiederherstellung der deutschen Einheit durch eine vom Volk angenommene Verfassung abgelöst werden sollte. Diese Chance auf eine von den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern per Abstimmung selbstgewählte Verfassung wurde zwar im Wege der Wiedervereinigung verpasst, gleichwohl gilt: Das vom Parlamentarischen Rat vor 60 Jahren entwickelte Grundgesetz ist längst nicht reif für die Rente.

Dem Parlamentarischen Rat gehörten 65 stimmberechtigte Mitglieder an, die von den Landesparlamenten entsandt wurden, sowie 5 nicht stimmberechtigte Abgeordnete aus Berlin-West. Unter den 70 Mitgliedern waren 5 Abgeordnete der KPD. Zu den "Vätern des Grundgesetzes" zählen tatsächlich auch vier Frauen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates bemühten sich, verfassungsrechtliche Lehren aus der Weimarer Verfassung und dem Siegeszug der Nationalsozialisten zu ziehen.

Der Parlamentarische Rat hat eine Verfassung erarbeitet,  die vom Wissen um den Zusammenhang von Kapitalismus, wirtschaftlicher Machtzusammenballung und Nationalsozialismus geprägt war. Die Stärkung der individuellen, bürgerlichen Grundrechte gegenüber dem Staat zählen ebenso dazu wie die Normierung der Würde des Menschen als unantastbar, als archimedischer Punkt der Grundgesetzes. Aber auch die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums oder die nur noch vorwiegend repräsentative Rolle des Bundespräsidenten an Stelle der mit seiner Direktwahl durch das Volk legitimierten Macht des Reichspräsidenten zeugen davon.

Die Ewigkeitsgarantie in Art. 79 GG und die Möglichkeit, mittels Artikel 14 und 15 mit verfassungsgemäßen Instrumenten Wirtschaftsmacht zu begrenzen sind besondere Schätze des Grundgesetzes, die immer wieder verteidigt werden müssen, auch wenn sich schon 1948/49 manche Mitglieder des Parlamentarischen Rates weitergehende Festlegungen zur Sozialisierung und sozialen Grundrechten wünschten.

Das Grundgesetz ist durch den Gesetzgeber immer wieder geändert, ja geschleift und essentieller Bestandteile – zum Beispiel des Grundrechtes auf Asyl – beraubt worden. Das Bundesverfassungsgericht war häufig eher Hüter der Verfassung als der Gesetzgeber und hat wesentlich zur Weiterentwicklung von Grundrechten, so beispielsweise des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung, beigetragen.

Der 60. Jahrestag des ersten Zusammentreffens des Parlamentarischen Rates ist nicht allein Anlass für ein historisches Gedenken, sondern immer für ein aktuelles Bedenken, wie Grundgesetzanspruch und Lebenswirklichkeit heute zueinander stehen, zumal wenn die Volljährigkeit des vereinigten Deutschland im Oktober diesen Jahres bevorsteht.

Das Grundgesetz gibt nicht vor, dass die Verhältnisse so sein müssen, wie sie sind. Es fordert die beständige Anstrengung, einen sozialen, demokratischen Rechtsstaat zu formen. Dafür müssen aber  die verfassungsmäßigen Instrumente des Grundgesetzes etwa für mehr soziale Demokratie oder für die Allgemeinwohlorientierung im Gebrauch wirtschaftlicher Macht auch genutzt werden. In diesem Sinne – auch im sechzigsten Jahr bleibt das Grundgesetz offen für eine neue soziale Idee.


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