Wir haben die Entdeckungen noch vor uns.
Rede von Lothar Bisky zur Eröffnung der Konferenz "Die Linke. Erbe und Tradition" am 19. und 20. Februar 2010 in Leipzig
Verehrte Gäste, liebe Genossinnen und Genossen, wohin politisches Denken ohne Geschichte führen kann, hat dieser Tage der deutscher Außenminister bewiesen. Westerwelle verfrachtete den modernen Sozialismus in den langen Schatten der spätrömischen Dekadenz. Doch dieses Sinnbild des Luxus war hier wohl eher von Hollywood, denn von der Kulturgeschichte gespeist.
Zu Recht erntete Westerwelle - rund um den Aschermittwoch - harsche Kritik an dieser Beleidigung von Menschen, die sich im besten Falle tagtäglich gegen soziale Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit stemmen.
Ich mache mir allerdings keine Illusionen, dass wir schon morgen vom liberalen Populismus a ‘la Westerwelle befreit werden. Zu tief sitzen die historischen Machterfahrungen und die erprobten Strategien des Klassenkampfes von oben. Sie setzen immer wieder auf Teile und Herrsche.
Der Versuch, Beschäftigte im Niedriglohnbereich gegen Menschen, die mit und ohne Erwerb auf HartzIV angewiesen sind, gegeneinander auszuspielen, ist so durchsichtig wie schäbig. Trotzdem erreicht diese Masche der Empörung über den Müßiggang die eigentlich Ausgegrenzten, häufig ihr Ziel. Sie trifft mitten in ein Klima, indem eine reiche Gesellschaft, wie die unsrige, Menschen in unwürdige, existenzvernichtende Leiharbeit zwingt und zum anderen Gesetze entwickelt, die Menschen ohne Erwerbsarbeit ihre Würde abspricht und demütigt.
Doch hinter diesem asozialen Getöse offenbart sich zum einen die Regierungsunfähigkeit einer Klientel- und Steuersenkungspartei. Zum anderen – und dies muss uns heute hier besonders interessieren – ist eine derartige politische Unvernunft, wie sie der politische Gegner in Gestalt der FDP abliefert, auch die Folge einer 150jährigen Kappung der eigenen libertären Wurzeln. Dieser Prozess beginnt mit dem raschen Anwachsen der Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und gipfelt nach meiner jetzigen europäischen Erfahrungen in der Schmalspurversion des Liberalismus der FDP. Es gibt aber noch liberale Parteien in Europa.
Der politische Liberalismus war bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in der Arbeitsnehmerschaft durchaus verwurzelt. Nur konnte schon damals das liberale Parteienprojekt mit den aufgeschlossenen, politisierten Arbeitern, nichts mehr anfangen. Die Nationalliberalen verhalfen Bismarcks Gesetz "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" zur Mehrheit. Mit ihrer Gefolgschaft gegenüber dem "eisernen" Kanzler hatten sie ihre Wurzeln von Freiheit und Gleichheit einer klassischen Klientel- und Machtsicherungspolitik geopfert.
Die Organisationsentwicklung auf Seiten der Arbeiterschaft, die schnell wachsende Sozialdemokratie, stand daraufhin verständlicherweise in den heftigsten Auseinandersetzungen mit dem politischen Liberalismus. Dies führte zugleich auch zu einem gewissen Abschied auf Raten von libertären Gedanken innerhalb der sozialistischen Bewegung. Engels schrieb am 5. März 1892 an Kautsky folgende Mahnung: "Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst."
Das Erbe des Liberalismus blieb in der dauernden, praktischen Abgrenzung der linken Bewegungen zum politischen Liberalismus also nachvollziehbar ein schwieriges.
Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste, diese kurze Besichtigung einer der Wurzeln der Linken wirft nochmals ein anderes Licht auf das aktuelle politische NRW-Vorwahlkampfgetöse. Westerwelle wird ja nicht müde, den Untergang des Abendlandes durch einen "geistigen Sozialismus" zu beschwören, den er jetzt beim Bundesverfassungsgericht zu erkennen glaubt, welchen Richter er dort immer meinen mag. Wir erleben hier nur die Fortsetzung der eher traurigen Tradition der liberalen Selbstbeschränkung auf die Freiheiten des Marktes und die Nähe zu den Mächtigen, - die dann fälschlicherweise zu den Leistungsträgern, die bitteschön niemand einzuschränken hat -, gekürt werden.
Es ist dabei schon bizarr, dass der Rechtsstaat gleich mit angegriffen wird, wenn der FDP eine Entscheidung nicht passt. Die FDP hält offenbar nur ihren geschichtslosen Rand, wenn Gesetze in Kanzleien vorgeschrieben werden, die Entwicklungshilfe zertrümmert wird oder Lobbyisten anderweitig die parlamentarische Demokratie bevölkern.
Ich liege sicher nicht ganz falsch, wenn ich davon ausgehe, dass FDP-Strategen sich weniger mit der Geschichte des Liberalismus seit 1848 beschäftigen. Ich vermute inzwischen eher, dass sie etwas kurzatmig ihre Verwirrung über unser Wahlplakat: "Reichtum für alle" aufarbeiten. Dabei haben sie sogar schon vergessen, dass wir in ihrer direkten Traditionslinie von spätrömischer Dekadenz und Sozialismus mit dem Plakat "Luxus für alle" aus dem Jahre 2005 eigentlich viel mehr Nahrung geliefert haben.
Der Reichtumsbegriff der FDP hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts jedenfalls zu keinem Zeitpunkt verlassen. Offenbar wird der wiederum nur gespeist aus den filmischen Kindheitserinnerungen, in denen Dagobert Duck in seinen Geldbergen badet. Dieses kapitale Sinnbild der Antiheuschrecke muss dem heutigen karrierebewussten Liberalen panische Angst einjagen. Mit Marx würden wir sagen, dass der akkumulierende Schatzbildner durchaus etwas Untypisches für das virulente Kapital an sich hat. Doch er ist zugleich eine kulturelle Übergangsfigur, die mit dem protestantischen Arbeitsethos gesegnet, eher asketisch und genussunfähig jenen historischen Prozess der ursprünglichen Akkumulation befeuert hat.
Da kann einem heutigen Finanzmarktstrategen schon der Schweiß ausbrechen, wenn dem investierenden Kapital des Benzin ausgeht oder immer neue Bewegungen entstehen, die immer neu die Verteilungsfrage des gesellschaftlichen Reichtums stellen und Finanztransaktionssteuern europa- und weltweit einfordern.
Die an Geld reichste Ente der Welt, Dagobert Duck, ist aber nach Erzählungen auch schon 1867 geboren. Genau deshalb legte die wohl noch größten Wert auf die lebendige Arbeit selbst. Und es kommt noch besser: Dagobert Duck hält leistungsloses Erben für das Gegenteil eines Sinnbild der Leistungsgesellschaft. Mein Fazit ist ganz schlicht: Selbst in der kurzen Kulturgeschichte des Animationsfilms steckt mehr Geschichtsbewusstsein, als heutige Regierungsliberale uns zu bieten haben.
Wie erst könnte man Schätze für die moderne politische Kultur heben, ließe man sich tatsächlich auf das 19. und das vergangene Jahrhundert ein und schaut auf die sich rasant veränderten Lebensbedingungen, die zu den bürgerlichen Ideen der Freiheit, Gleichheit und einstmals noch ausschließenden Brüderlichkeit geführt haben.
Wir müssen uns wahrlich nicht den Kopf der FDP zerbrechen. Wir müssen auch ganz sicher nicht in Tränen ausbrechen, wenn die CDU ihr destaströses Wahlergebnis schweigend vor sich herträgt und insgeheim grübelt, wie sie als Volkspartei neben einer regierungsunfähigen FDP überlebt. Schmerzlicher ist für uns schon der Zustand der SPD. Wir wissen doch, mit Blick auf die vergangenen 200 Jahre, dass ihre Parteigeschichte selbst, all den Bodensatz der Geschichte der Linken mit offenlegt.
Nach 1848 die soziale Frage wirklich deutlich aus den Idealen der bürgerlichen Revolution herauszuarbeiten, die Gesellschaftlichkeit unseres Handels und den moralischen Anspruch der Solidarität tatsächlich neben Freiheit und Gleichheit dauerhaft herauszuarbeiten und damit auch zu begründen, darin liegt der große Verdienst, des linken Denkens – und auch Handelns - im 19. und im 20. Jahrhundert.
Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste mein einleitender Bogen sollte die Dimension sinnlich fassbar machen, die sich mit einer Konferenz, die sich dem Erbe und der Tradition der Linken widmet, aufspannt. Nun könnte man kurzerhand vermuten, was der heutige politische Liberalismus zu wenig, treiben Linke sich zu viel in der Geschichte herum. Immerhin haben wir eine Konferenz vor uns, die mit einer zweibändigen Publikation zum Thema aufwartet und nicht nur hernach im Konferenzband ihre Ergebnisse bündeln wird.
Doch ich denke – und viele werden mir beipflichten, dass es mitnichten so ist, dass die junge parteipolitische Linke in Deutschland voller Geschichtsbewusstsein beherzt an die Entwicklung ihrer aktuellen politischen Schwerpunkte, an die Bestimmung strategischer Themen herangeht. Da stehen wir doch eher am Anfang und haben die großen Entdeckungen noch vor uns.
Wir spüren alltäglich die Klüfte, die Berg und Tal-Landschaften einer politischen Debatte, die sich zwischen engagierten Historikerinnen und Historikern, zwischen Kapitallesebewegung junger Menschen, zwischen bewegungs- und gewerkschaftsorientierten Linken auftun.
Notwendige Geschichtsdebatten, deren Bedarf außer Frage steht, haben zwei wichtige Pole der geschichtlichen Auseinandersetzung miteinander zu verbinden: Pluralität und Identitätsstiftung. Denn: Wir werden immer nur in ein Warenhaus der linken Denkströmungen greifen, wenn wir nicht die eigentlichen Wurzeln besichtigen, aus denen die politischen Erfahrungen und Überzeugungen gespeist sind.
Die gemeinsamen Wurzeln der kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationserfahrungen und der linkssozialistischen Denktraditionen zu besichtigen, ist schon deshalb unerlässlich, weil nur damit das plurale Denken einer modernen Linken nicht zur Beliebigkeit verkommt. Zugleich wird Pluralität überhaupt erst durch die Vergewisserung von schwierigem Erbe und politischen und kulturellen Traditionen möglich.
Geschichtliche Auseinandersetzung ist der Humus dafür, dass Pluralität kein abstraktes Postulat einer modernen Parteientwicklung bleibt. Wir erleben doch häufig genug, dass sie uns immer nur solange als heilig gilt, wie sie meine eigenen Auffassungen nicht in Bewegung bringt. Eine solche erstarrte politische Kultur können wir uns keinen Tag länger leisten.
Das linke Parteienprojekt ist ein Teil der gesellschaftlichen Linken. Nur mit Offenheit, nur mit Geschichtsbewusstsein und lebendiger Auseinandersetzungen werden wir überhaupt verstehen, was neue soziale Bewegungen, was das weltweite Informationsprekariat und die sozialistischen Bewegungen in Lateinamerika wirklich umtreibt. Und davon kann das alte Europa viel lernen.
Ein weiterer Grund, die geschichtliche Besichtigung der Traditionen und des linken Erbes ernst zu nehmen, sind die wachsenden Auseinandersetzungen mit rechtsextremistischen Parteien in Europa. Ihr Geschichtsrevisionismus ist dieser Tage in Dresden gestoppt worden. Doch sie hören nicht auf, die soziale Frage für sich zu reklamieren und in nationalen Lösungen zu ertränken. Dieser Irrweg führte in die entsetzlichsten Verbrechen der Menschheit. Die Verantwortung, dass solche menschenverachtende Politik nie wieder Macht erhält, tragen wir alle, tagtäglich.
Verehrte Besucherinnen und Besucher der Konferenz, in einer Eröffnungsrede darf man Ansprüche an eine Konferenz formulieren. Meine Ansprüche gehen in mindestens drei Richtungen, ganz abgesehen vom eigentlichen Vergnügen der historischen Auseinandersetzung und Vergewisserung.
Die Beschäftigung mit Geschichte kann einen Beitrag für die die Politikentwicklung der Linken, für die Methodik und Grundierung der Programmdebatte leisten, und sie kann Wirkungen für ein Wachsen der gesellschaftlichen Linken entfalten – über die parteipolitischen Debatten also weit hinaus. Wir haben das in der Hand – und die interessante Debatte gestern Abend in der Moritzbastei hat einiges Potential dieser Unternehmung schon zu Tage befördert. Das können wir heute weitertreiben.
Im letzten Drittel meiner Konferenzeröffnung erlaube ich mir, auf einiges verweisen, das vor allem die jüngsten Geschichte der Linken in Deutschland und Europa nach 1989/90 geprägt hat. Es berührt meine Erfahrungen in der PDS, die sich aus dem Erbe und in radikaler Auseinandersetzung mit der SED entwickelt haben.
Es geht um Erfahrungen, die viele Parteien in Ost- und Westeuropa seit 20 Jahren bewegte und bewegt. Einiges ist schon in den Publikationen, die dankenswerterweise auf die Herausgeberschaft unseres heutigen Moderators, Klaus Kinner, zurückgehen, versammelt. Da muss ich nur zur fortgesetzten Lektüre auffordern. Während ich mir allerdings sicher bin, dass mir diesen einen Wunsch die Konrad-Adenauer Stiftung ganz schnell erfüllt, werde ich wohl an mir freundlicher gesonnenen Orten durchaus unbeirrt weiterwerben für ein lebendiges Erbe.
Eines sticht aus der Besichtigung der reichen Beschäftigung mit der Geschichte der Linken immer hervor. Weltanschaulicher Pluralismus ist für linke Parteiprojekte nach 1989 unerlässlich geworden. Doch ich hatte schon angedeutet, dass er ohne die Anerkennung unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrungen, wohl kaum einlösen lässt. Wenn wir uns dem reichen und schwierigen Erbe verweigern oder es nur selektiv akzeptieren, dann bleibt die Notwendigkeit der pluralen Debatte am Ende ein Allgemeinplatz, weil sie mangels Verständnis gar nicht geführt werden kann.
Dass Christinnen und Humanisten, Kommunistinnen und Sozialisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafterinnen in einer Partei sind, das ist akzeptiert und gehört zum reichtum und zu den Potentialen dieser Partei. Doch die Uneinigkeit beginnt dort, wo es darum gehen muss, auch die theoretischen Begründungen für linkes Denken und Handeln aus einem pluralen Fundus zu speisen und hier einen echten Austausch herzustellen.
Genauso wie man in die Lage geraten kann, den Marxismus gegen sich selbst zu verteidigen, sind Bergpredigt, Literatur und Film, moderne Analysen von Bollinger bis Boltanski zum theoretischen und kulturellen Erbe geworden. In einer sympathischen Überhöhung hat Wolf Lepenies 1989 darauf aufmerksam gemacht, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten soll. Er schrieb 1989 in der ZEIT: "Es besteht kein Grund, die zutiefst moralischen Antriebe bei der Entstehung sozialistischer Ideen heute bereits für befriedigt zu halten. Der entscheidende Irrtum von Marx und Engels war es, den Weg des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft für einen Fortschritt zu halten. Nunmehr ist ein Rückschritt erforderlich. Der Sozialismus ist keine Wissenschaft. Er bleibt eine notwendige Utopie, die nur um den Preis realitätsblinder Selbstgerechtigkeit aus dem öffentlichen Diskurs vertrieben werden kann. Auch in Zukunft wird die sozialistische Utopie zum geistigen Kanon einer europäischen Kultur gehören, die sich über ihre inneren Widersprüche nicht hinweg täuschen will." (ZITAT Ende)
Diese Sicht auf eine moderne sozialistische Idee, auf deren demokratisch-sozialistische Grundströmung, schließt wissenschaftliche Analyse und historische Debatte ausdrücklich ein.
Um heute Politikentwicklung und Strategiebildung in linken Parteiprojekten zu bewegen, reicht der Blick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung allerdings nicht aus. Wir haben die Erfahrung von weltweiten Befreiungsbewegungen und die Kämpfe aus den feministischen Bewegungen zu verarbeiten. Wir haben die Entwicklung des Völkerrechts nach zwei entsetzlichen Weltkriegen ernst zu nehmen.
Das 21. Jahrhundert begann mit lauten und mit leisen Kriegen. Wir haben aktuell im reichen Norden die sanften Folgen einer Finanz- und Wirtschaftskrise zu verarbeiten. Sie wird sich allerdings wie eine Bugwelle über die Hungersnöte, Wasserknappheit und Klimawandel legen.
Vor diesem Hintergrund ist eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Linkssozialismus unerlässlich. Diese parteiübergreifende Strömung hat neben der Organisationserfahrung in sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien Fragen zugespitzt, die ein Zusammenspiel von linken Parteiprojekten und dem Wirken und Handeln einer gesellschaftlichen Linken im Auge haben.
Manchen erscheint die Begrifflichkeit des Linkssozialismus als Tautologie und man kann dies auch nachvollziehen. Doch dieser eingeführte Begriff lässt sich gut verwenden, weil er eine ganze Denklinie der kritischen Auseinandersetzung mit sozialdemokratischen und kommunistischen Positionen versammelt, die einen Ansatz suchen, um Reform und Revolution zu verbinden. Die linkssozialistischen Wurzeln sind gerade deshalb interessant, weil sie in der Geschichte – nicht unbedingt parteifreundlich, aber auch nicht organisationsfeindlich – waren. Von deren Lebendigkeit und Lernfreudigkeit – in Zeitschriften, Bewegungen und in Parteien – kann man nur lernen.
Die Wurzeln des Linkssozialismus verweisen auf eine enge Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit.
Mit dem Linkssozialismus kommt die zentrale Bedeutung der Demokratie zurück in die Programmdebatten der Linken. Sie wurde erneuert durch Luxemburg, Levy, Fröhlich, und mit Abendroth insbesondere nach 1945 in Westdeutschland. Sie stehen damit in einer Tradition, die Demokratie nicht abstrakt, sondern tatsächlich als soziale Demokratie verhandelt.
Ich gehe gar soweit, dass sie als sozialistische Demokratie verhandelt werden sollte, um ein alternatives Gesellschaftskonzept auch deutlich ins Spiel zu bringen. Dafür ist das die Begrifflichkeit des demokratischen Sozialismus schlichtweg sinnvoll und notwendig.
Die Traditionslinie des Linkssozialismus steht für die konsequente Absage an jeglichen Avantgardismus in Parteiprojekten. Mit dem Blick auf moderne linke Parteientwicklungen und deren Kinderkrankheiten möchte man auch eine Traditionslinie zu einer modernen Mitgliederpartei aufrufen, in der Fraktionen das Wachsen einer Partei begleiten, aber nicht dominieren. Genau dieser Anspruch – die Absage an den politischen Avantgardismus in jeder Form – wird zum entscheidenden Humus der programmischen Debatten linker Parteien nach einem diskreditierten Staatssozialismus nach 1989/90. Mit der Absage an den Stalinismus als System – so hat nicht nur die PDS 1989/90 begonnen.
Mit "Adio Stalinismo" wurde auch in Rom die Gründung der Partei der Europäischen Linken in der Presse begrüßt. Im fünfseitigen Gründungsprogramm der EL heißt es:"Für uns ist Europa in der internationalen Politik ein Raum des Wiedererstehen des Kampfes um eine andere Gesellschaft Ihre Ziele sind Frieden und die Transformation der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse. Wir streben eine Gesellschaft an, die über die kapitalistische, partriachale Logik hinausgeht. Unser Ziele sind Emanzipation des Menschen, Befreiung der Frauen und Männer von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung in jeder Form." Ich habe dies herausgegriffen, weil hier – besonders auch in der Praxis dieses Projektes - auf Debatten zugegangen wird, die mit der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung, die in kritischen Gewerkschaften, bei Studenten, in feministischen Netzwerken oder mit dem neuen Informationsprekariat in die Öffentlichkeit gekommen sind.
Kritisch – und natürlich auch kenntnisreich – gegenüber der eigenen linken Geschichte, offen für neue solidarische Lösungsansätze bei den drängendsten Menschheitsfragen und damit auch offen in einer lernenden Partei, anders wird DIE LINKE nicht vorankommen. Meine Hoffnungen sind groß, dass die noch junge LINKE in Deutschland ihre Wachstumsprobleme beherzt in Angriff nimmt. Dafür ist die Vergewisserung ihrer gemeinsamen Wurzeln eine wichtige Voraussetzung.
Ich wünsche der Konferenz DIE LINKE. Erbe und Tradition viel Erfolg und eine Strahlkraft in die weiteren Debatten. Ich wünsche mir auch, dass sie uns in den gewaltigen politischen Auseinandersetzungen hilfreich ist. Ich wünsche mir auch, dass sie uns Unterstützung ist, bei der Konkretisierung von Alternativen, um den gesellschaftlichen Herausforderungen wie Armutsbekämpfung, Klimawandel, Energiesicherheit und friedlichen Konfliktbeilegung gewachsen zu sein.
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, verehrte Gäste, damit komme ich zum aktualistischen Auftakt abschließend noch einmal zurück.Das Freiheitsgetöse der Schwarz-Gelben und auch der Konservativen in Europa untergräbt Tag für Tag, dass Bildung, Kultur, Forschung, gute Arbeit, Gesundheitsvorsorge und ein würdiges Leben - auch jenseits von Lohnarbeit- , allemal mehr Freiheit begründen, als es deren Schmalspurliberalismus zu denken wagt.
Ich neige überdies dazu, die postulierte Staatsferne der Liberalen und der Konservativen einmal genau historisch zu hinterfragen. Sie rufen unüberhörbar laut nach der staatlichen Feuerwehr, wenn der Finanzmarkt ins Strudeln kommt, persönliche Daten gesammelt werden sollen oder die NATO tagt.
Nur die wachsende öffentliche Armut ist ihnen kaum der politische Einsatz wert. Da erfinden sie eine langweilige Geschichte der Sachzwänge und erheben den freien Markt und die Demografie immer von Neuem zur Naturgewalt. Das Ende dieser Ideologien ist die Verschwörungstheorie im direkten Weg von der spätrömischen Dekadenz zum Sozialismus.
Dafür ernten sie nicht nur die rote Karte in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen, sondern auch den ersten Preis für Geschichtslosigkeit gegenüber den eigenen Wurzeln und der europäischen Geistesgeschichte.
Es gut, wenn wir heute hier mit Bedacht und Tiefgründigkeit demokratisch-sozialistisches Denken, eingebunden in geschichtliche Erfahrung, entgegensetzen, denn die Auseinandersetzungen der Gegenwart werden wachsen.
Dafür brauchen wir eine kluge Linke, die ihr kompliziertes Erbe annimmt, ihre Traditionen kennt und kritisch besichtigt. Viel Erfolg.