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Lothar Bisky

Randglossen zu einer Programmdebatte

Statement von Lothar Bisky bei der Vorstellung des Programmentwurfes auf der Pressekonferenz im Berliner Karl-Liebknecht-Haus am 20. März 2010

Meine Damen und Herren, am vergangenen Montag hat die Programmkommission sich einstimmig auf einen ersten Entwurf für die Programmdebatte geeinigt. Heute hat der Vorstand zum ersten Mal über den Entwurf und Inhalte der kommenden Debatte gesprochen.

Oskar Lafontaine wird Sie über die wesentlichen Inhalte des Entwurfs informieren. Ich werde einige Anmerkungen zur Funktion unserer Programmdebatte und zu deren Umfeld voranstellen. Sie bekommen also Randglossen und das Wesentliche zum Programmentwurf im einem.

Sie sehen, wir haben aus der Geschichte der langen Programmdebatten der Linken gelernt.

I. "Spiegel online" hatte mich in dieser Woche schon mit Marx' "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme" zitiert. Damit drückte Marx allerdings keineswegs die Abscheu gegenüber Programmen aus. Im Gegenteil. Er wollte auf den enormen Aufwand verweisen, den ein gutes Programm verdient. Und ihm war klar, dieser Idealzustand wird kaum zu erreichen sein.

Deshalb setzte er sich schon in den Randglossen, die seinem kurzen Brief vom 5. Mai 1875 an Wilhelm Bracke anhingen, beherzt mit dem Arbeitsbegriff und den Staatsvorstellungen des Gothaer Programms auseinander.

Dies möchte ich auch deshalb hervorheben, weil der Linken noch heute gern ein Staatsbegriff angeheftet wird, der vor 135 Jahren innerhalb der Linken schon heftig kritisiert wurde.

Und heutzutage werden die modernen Medien erst recht keine Zeit verwenden können, sich historische Feinheiten herauszuarbeiten. Die Aufmerksamkeitssuche im 35-Sekunden-Format bestimmt die politische Kommunikation. Programmdebatte und Medien sind zeitweise, was die Zeitverwendung anbelangt, gegensätzlich orientiert.

Die Linke träumt von Verstaatlichung, lese ich wahrscheinlich morgen in einer Reihe von Publikationen. Wie, mit welchem Demokratieverständnis, dafür bleibt keine Zeit und kein Platz. Ich mache mir da keine Illusionen mehr.

Dies hat auch wenig mit dem Vermögen von Journalistinnen und Journalisten zu tun, uns knapp und sachlich zu kommentieren. Es sind die Strukturen des gesamten Medienbetriebes, dem Sie und wir unterworfen sind. Deshalb ist es allerdings gerade programmtisch interessant, darüber nachzudenken, wie wir diese Medienwelt vielleicht gemeinsam ändern können, so dass die Arbeit mehr Spaß macht und auch besser bezahlt wird, anstatt im wachsenden Informationsprekariat ausgepowert zu werden.

II. Meine Erfahrung sagt mir, auch dem Sozialismusbegriff wird es wie dem Staatsbegriff ergehen. Uns wird einzig seine historische Deformation hinterhergetragen. Doch damit ist er der europäischen Geistesgeschichte entrissen.

Das ist geschichtlich nachvollziehbar, aber in dieser blinden Schärfe wiederum sehr europäisch. Dabei können Sie mir eines glauben. Ich brauche keine Huldigung eines zweiten Staatssozialismus – keinen Sozialismus ohne Demokratie, das steht auch im Programmentwurf. Wir brauchen allerdings auch keinen Staatskapitalismus. Dessen unheilige Inkompetenz, Herausforderungen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise zu lösen, erleben wir von Berlin bis Athen.

Es ist beängstigend, wie verantwortungslos Schwarzgelb hier, aber auch die Mehrheit der Regierungen in Europa, mit den Krisenfolgen, mit dem Klimawandel, mit ausbleibender Armutsbekämpfung und wachsenden Sicherheitsrisiken, mit Demokratiedefiziten und schwindender politischer Mitbestimmung umgehen.

Ich möchte, um das Interesse an einem umfassenden Sozialismusbegriff zu füttern, nochmals aus der spannenden Geistesgeschichte linken europäischen Denkens schöpfen. Engels schrieb am 5. März 1892 an Kautsky folgende Mahnung: "Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst." Heute muss man den Liberalismus - wie er mit der Revolution 1848 groß wird und mit dem politischen Liberalismus im selben Jahrhundert schon wieder kleingewirtschaftet wurde, auch gegen sich selbst verteidigen. Also nicht nur den Sozialismus, sondern auch den Liberalismus.

Erst recht gilt dies für seine Okkupation durch manche platte Nachfahren, wie wir sie erleben können. Ich will jetzt keine Namen nennen, aber deren politisches Programm hat so viel mit dem ursprünglichen Liberalismus zu tun, wie Pik As mit Aspik.

Ich möchte deutlich reklamieren: Eine der Vorgängerparteien der parteipolitischen Linken in Deutschland, die PDS, und auch die europäische Linke, gegründet vor fünf Jahren, haben sich intensiv mit den libertären und demokratischen Wurzeln sozialistischer Politik auseinandergesetzt. Das gehört zum jüngsten Erbe der neuen LINKEN, und das werden wir nicht leichtfertig verspielen.

Jetzt sind mit den Wurzeln aus der WASG, den politischen Erfahrungen aus Gewerkschaften und den Bewegungen gegen Hartz-IV und die Agenda 2010 weitere Kompetenzen hinzugekommen, die wir in der programmatischen Debatte nutzen müssen.

Und dann erinnere ich doch gern daran, dass wir den demokratischen Sozialismus gar nicht gepachtet haben, sondern sozialistisches Denken auch in sozialdemokratischen und kommunistischen Programmdebatten immer und immer bewegt wurden.

Lassen Sie mich abschließend betonen: Ich lege großen Wert auf erweiternde Sichten und möchte deshalb heute hier bei der Vorstellung des Entwurfs sagen, welche Funktion die Programmdebatte haben kann.

Sie soll den identitätsstiftenden Kern für die LINKE finden, den Identitätskern unserer Partei, einer Partei, in der z. B. ChristInnen genauso ihren Platz finden wie Humanisten.

Wenn es darum geht, Alternativen zum Heute zu skizzieren, Schritte auf dem Weg in eine Gesellschaft der sozialen Wohlfahrt für alle, eine Welt des Friedens, eine Welt der demokratischen Mitbestimmung – auch in der Wirtschaft - zu gehen, dann sind uns gerade die unterschiedlichen Erfahrungen nicht hinderlich, gemeinsam Politik zu machen.

Ich zitiere dann gern, Brechts Sozialismusauffassung, die er im finnischen Exil 1941 entwickelte: "der große irrtum, der mich hinderte, die lehrstückchen vom BÖSEN BAAL DEM ASOZIALEN herzustellen, bestand in meiner definition des sozialismus als einer großen ordnung. Er ist hingegen viel praktischer als große produktion zu definieren. produktion muß natürlich im weitesten sinn genommen werden, und der kampf gilt der befreiung aller menschen von allen fesseln. Die produkte können sein brot, lampen, hüte, musikstücke, schachzüge, wässerung, teint, charakter, spiele usw.usw."

Dieser produktive Aspekt bedeutet für mich: Wir werden in den Programmdebatten gemeinsam herausarbeiten müssen, mit welcher anderen Regulationsweise, die wir als demokratisch-sozialistisch bezeichnen, Produktivität und Freiheit, ein sorgsamer Umgang mit der Natur und mit uns selbst, möglich werden.

Die Innovationskraft des Kapitalismus kennen wir. Doch wir kennen auch die Zerstörung und die Unfreiheit, die er der Mehrheit der Menschen beschert, seine Macht- und Eigentumsstrukturen, die nur wenigen zu Gute kommen und Lebensperspektiven für Milliarden Menschen und für den Planeten selbst infrage stellen.

Deshalb ist unsere gemeinsame Identität,

  • die soziale Frage neu zu stellen,
  • Frieden konsequent einzufordern
  • und mehr Demokratie durch jeden Lebensbereich – von den Medien bis zur Wirtschaft, von der Politik bis zu den Geschlechterverhältnissen - zu buchstabieren.

Die große Erzählung sieht heute anders aus als im vorigen Jahrhundert. Sie ist zusammengesetzter, vielleicht auch viel praktischer und dezentraler.

Ich bin überzeugt, dass programmtische Debatten wichtige Übereinkünfte möglich machen, die den Mitgliedern der jungen LINKEN gemeinsam sind und uns in Kampagnen, in Wahlkämpfen, beim Wachsen einer erfolgreichen Partei begleiten.

Ich scheue die Mühe nicht und freue mich deshalb auch, wenn die Programmdebatte über die Partei hinausgeht, wenn Sie – meine Damen und Herren - berichten, wenn ein Austausch darüber beginnt, wie wir morgen leben wollen. hier, in Europa, in der Welt.