Zum Hauptinhalt springen
Sahra Wagenknecht

Ihre Schuldenbremse heißt Sozialabbau, unsere Millionärssteuer

Sahra Wagenknecht in der Debatte des Deutschen Bundestages über den Haushalt der Bundeskanzlerin

Es gilt das gesprochene Wort!

Werte Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzlerin, Sie werden ja gleich wieder hier ans Mikro treten und sich selbstzufrieden auf die Schulter klopfen, und dann werden wir stundenlang die Rednerinnen und Redner der Koalition hören, die Sie natürlich auch alle nur loben dürfen, aber wenn man sich die derzeitige Situation in Deutschland, in Europa und in der Welt ansieht, und wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Anteil Sie, Frau Kanzlerin, ganz persönlich daran haben, dann fragt man sich schon, wie Sie darauf auch noch stolz sein können.

Ja, wir leben in einem reichen Land, das gute Autos und international gefragte Maschinen produziert. Aber es ist ein gespaltenes Land. Es ist ein Land, in dem fleißige Arbeit längst nicht mehr vor Armut schützt, und die richtige Auswahl des Elternhauses weit wichtiger geworden ist als die richtige Wahl des Berufs. Es ist ein Land, in dem kaum noch investiert wird, in dem Straßen und Brücken verrotten und nicht wenige Kinder in verwahrlosten Wohngebieten aufwachsen und ihnen elementare Bildung vorenthalten wird.

Und was tun Sie, Frau Merkel? Statt Problemlösungen liefern sie Taschenspielertricks, statt solider Finanzierungen kreative Buchführung und statt wirtschaftspolitischer Rationalität okkulte Opferrituale vor ihrer neuen Göttin, der Schwarzen Null.

Aber solide öffentliche Finanzen gibt es nicht ohne eine dynamische Wirtschaft. Es gibt sie nicht ohne Konsumenten, die genug Geld in der Tasche haben, um sich ein gutes Leben leisten zu können. Es gibt sie nicht ohne Unternehmen, die aufgrund dieser Nachfrage auch Anreize haben zu investieren, statt ihr Geld zu bunkern oder ihre Aktionäre mit Rekorddividenden glücklich zu machen. Und es gibt sie nicht, wenn gerade die reichsten Familien und die größten Konzerne kaum noch einen müden Euro zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen und der Staat dabei wegschaut.

"Und deswegen ist für mich die Schwarze Null eigentlich Ausdruck einer Null-Kompetenz in der Wirtschaftspolitik", das ist das Urteil des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger über ihre Wirtschaftspolitik. Oder vielleicht erinnern Sie sich noch, was Sie im August im schönen Lindau am Bodensee auf dem Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger zu hören bekommen haben: "Merkel verfolgt … eine völlig falsche Politik", "Merkel scheint den Ernst der Lage nicht kapiert zu haben", Merkels Rede war "eine einzige Katastrophe" - wohlgemerkt, das ist kein Mitschnitt aus einer Mitgliederversammlung der Linken, das waren Meinungen von Wirtschaftsnobelpreisträgern über die Ihre Wirtschaftspolitik. Aber das interessiert Sie offenbar alles nicht.

Weggucken, Wegducken, Wegreden, das ist Ihr Dreiklang im Umgang mit den Problemen und Gefahren der Gegenwart. Aber die Probleme sind zu ernst und die Gefahren zu groß, als dass wir uns weiterhin einen solchen Umgang mit ihnen leisten könnten.

Die deutsche Wirtschaft stagniert, alle Prognosen fürs nächste Jahr wurden kräftig nach unten korrigiert. Aus konjunkturellen wie aus prinzipiellen Gründen braucht dieses Land mehr Investitionen. Aber trotz des lauthals angekündigten Investitionsprogramms soll der Anteil der Investitionen des Bundes an seinen Gesamtausgaben nach dem eigenen Fahrplan der Regierung in den nächsten Jahren weiter sinken: von aktuell 10,1 Prozent auf 8,3 Prozent im Jahr 2018. So viel ökonomische Ignoranz ist kaum zu fassen.

Und dabei geht es nicht nur um Straßen und Brücken. Es geht auch um Zukunftstechnologien und Innovation, und wer meint, dafür sorge schon der Markt, der sollte sich vielleicht mal die Frage stellen, warum sich nahezu alle wichtigen digitalen Technologien heute in der Hand von US-Unternehmen befinden, die Möglichkeit zu globaler Überwachung inklusive. Nicht, weil der Markt dort besser funktioniert, sondern weil der Staat es sich - zumindest früher - ziemlich viel hat kosten lassen. Fast die gesamte Technologie, die heute in einem iPhone steckt, ist nicht in Steve Jobs Garage, sondern in staatlichen Forschungszentren entwickelt worden.

Und wer glaubt, ein fundamentaler technologischer Umbruch wie die Energiewende wäre ohne massive öffentliche Investitionen in Forschung und Umsetzung möglich, der hat eben nichts verstanden.

Aber statt über solche Fragen nachzudenken, verhandelt die Bundesregierung lieber über Investorenschutz. Oder genau genommen, sie verhandelt gar nicht, sondern ihr Wirtschaftsminister führt einen unglaublichen Eiertanz auf, um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.

Ich rede von den geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP und den darin vorgesehenen Sondergerichten für große Konzerne, mittels derer sie in Zukunft für jede Mindestlohnerhöhung und jedes Umweltschutzgesetz den deutschen Staat vor den Kadi ziehen können.

Offenbar haben Sie, Herr Gabriel, in Ihrer politischen Laufbahn nicht mehr vor, den Mindestlohn zu erhöhen oder die Umwelt zu schützen: jedenfalls haben Sie jetzt erklärt, die Sondergerichte ließen sich leider nicht mehr aus CETA rausverhandeln. Ja, Herr Gabriel, wenn die Sondergerichte sich nicht mehr rausverhandeln lassen, dann muss Deutschland dieses Abkommen eben ablehnen! Und das gleiche gilt für TTIP! Beide Abkommen haben doch im Kern nur das Ziel, Löhne, Sozialstandards und Verbraucherschutz noch weiter auf Sinkflug zu schicken und den Kapitalismus endgültig vor den Zumutungen der Demokratie zu schützen.

Dann kann man auf Wahlen und Parlamentarismus aber eigentlich gleich ganz verzichten.

Denn ein Bundestag, der keine Gesetze mehr machen darf, die den Banken und Konzernen missfallen, der verkommt doch zur bloßen Theaterveranstaltung,- und für ein Theater ist der Bundestag dann doch zu teuer und vielleicht auch zu wenig unterhaltsam.

Der bekannte Ordoliberale Alexander Rüstow hat bereits vor einem halben Jahrhundert gewarnt, dass "ein Staat, der damit anfängt, die Raubtiere der organisierten Unternehmerinteressen zu füttern, letzten Endes von ihnen verschlungen wird." Gerade deshalb haben die Ordoliberalen immer davor gewarnt, Unternehmen oder auch Banken so groß oder so mächtig werden zu lassen, dass sie die Allgemeinheit erpressen oder ihr schlicht auf der Nase herumtanzen können. "Versagt der Staat auf diesem Feld, dann ist es bald um die Soziale Marktwirtschaft geschehen," war Ludwigs Erhard knappe Prognose zu diesem Thema, und gerade Sie von der CDU/CSU, die Sie sich immer so gern auf Erhard berufen, Sie sollten zugeben, dass er recht behalten hat.

Auch in Brisbane haben Sie, Frau Merkel, und die anderen Regierungschefs wieder auf zwei wichtigen Feldern vor den Raubtieren kapituliert: bei der Finanzmarktregulierung, und bei der Bekämpfung der Steuerflucht.

Es war ja schon auffällig, wie sehr sich die Bundesregierung bemüht hat, nach den Enthüllungen über die Steuersparmodelle in Luxembourg zur Tagesordnung überzugehen. Nun nehme ich ihnen ja ab, dass Sie über diese Enthüllungen genauso wenig überrascht waren wie ich. Es ist lange bekannt, dass es solche Modelle gibt, nicht nur in Luxembourg, auch in den Niederlanden, in Irland und vielen anderen EU-Staaten. Es wird geschätzt, dass das den deutschen Staat 100 Milliarden Euro pro Jahr kostet.

Die Deutsche Bank etwa lobt sich in ihrem Geschäftsbericht selbst dafür, dass sie durch eine "vorteilhafte geographische Verteilung ihres Konzernergebnisses" ihre Steuerzahlungen minimiert, sprich: die Öffentlichkeit geschädigt hat. Das muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen: Eine Bank, die ohne die Milliarden der Steuerzahler bankrott gewesen wäre, ist stolz darauf, dass sie eben diese Steuerzahler Jahr für Jahr um beträchtliche Summen betrügt.

Natürlich ist das kriminell, aber genauso kriminell ist eine Politik, die die passenden Gesetze dafür liefert bzw. sie akzeptiert.

Denn natürlich kann man diese Praktiken auch hier in Deutschland verhindern, man muss einfach gesetzlich festlegen, dass Zinsen, Lizenz- und Patentgebühren, die im Empfängerland nicht mit mindestens 25 Prozent besteuert werden, in Deutschland nicht mehr steuerlich abzugsfähig sind.

Aber wer zu so einem einfachen Gesetz nicht fähig ist, der sollte vor Scham rot anlaufen, wenn er der Bevölkerung jemals wieder erzählt, dass dieses oder jenes nicht finanzierbar sei.

Zum Beispiel eine gute Rente: Es ist noch keine Woche her, als das Statistische Bundesamt alarmierende Zahlen veröffentlich hat. Danach ist das Armutsrisiko älterer Menschen seit 2006 kontinuierlich gestiegen. Immer mehr müssen Grundsicherung beantragen und das heisst ganz brutal: sie müssen ihren Lebensabend auf Hartz-IV-Niveau fristen. Aber was fällt der Bundesregierung dazu ein? Sie kürzen den Bundeszuschuss zur Rentenkasse, um ihre Schwarze Null zu retten, und dann senken Sie auch noch den Beitragssatz zur Rentenversicherung.

Aber je weniger in einen Topf eingezahlt wird, desto weniger kommt dann natürlich auch raus, in diesem Fall für die Rentnerinnen und Rentner. Und das scheint ja auch genau das Ziel zu sein: Seit den von SPD und Grünen eingeleiteten Rentenkürzungen ist das Rentenniveau von 53 auf 48 Prozent gesunken. Und in Zukunft soll es weiter bergab gehen. Bald blüht selbst einem Durchschnittsverdiener nach einem langen Arbeitsleben im Alter Hartz IV. Das ist einfach schändlich, das ist Altersarmut per Gesetz!

Gleichzeitig verpulvert der Bund jedes Jahr Milliarden, um die sogenannte Riesterrente zu subventionieren.

Mit inzwischen 27 Milliarden Euro wurden so Betrugsprodukte subventioniert, an denen sich nur die Provisionsjäger der Versicherungen und Fonds goldene Nasen verdienen, während die Sparer in der Regel noch nicht mal zurückbekommen, was sie eingezahlt haben. Und trotzdem soll das so weitergehen.

Wie man heute weiss, hat sich sich der Drückerkönig Maschmeyer beim damaligen Kanzler Schröder mit immerhin 2 Millionen Euro für dieses zuvorkommende Gesetz bedankt. Ich weiss nicht, ob Sie, Frau Nahles, hoffen, dass Ihnen irgendwann auch mal einer für 2 Millionen Euro ihre Biographie abkauft.

Auf jeden Fall ist ihr Festhalten an dieser Rentenpolitik verantwortungslos und auch ein klarer Bruch der SPD-Wahlversprechen.

Deshalb: hören Sie auf, die Rentenkasse mit Betragssenkungen und versicherungsfremden Leistungen zu plündern! Hören Sie auf, öffentliches Geld für Betrugsprodukte zu verschleudern und stellen Sie eine lebensstandardsichernde Rente ab 65 für alle wieder her. Und wenn die Einnahmen bei dem jetzigen System dafür nicht reichen, dann verbreitern Sie die Basis, indem sie alle einzahlen lassen: auch Selbständige, Politiker und Beamte.

Aber es brennt ja nicht nur bei der Rente. Vor gut zwei Wochen wurde mit Unterstützung des größten deutschen Sozialverbands VdK eine Verfassungsklage "für menschenwürdige Pflege" eingereicht.

Es geht um die katastrophale Situation und den extremen Personalmangel in vielen Pflegeheimen.

Auch in vielen deutschen Krankenhäusern herrschen heute Zustände, die eines reichen Landes unwürdig sind. Auch die Gründe dafür lassen sich in Zahlen messen: Seit Mitte der 90er-Jahre wurde an deutschen Krankenhäusern mehr als jede zehnte Stelle im Pflegebereich abgebaut. Und, was fällt der Bundeskanzlerin dazu ein? Deutschland geht es gut!

Deshalb kürzen Sie den Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds in den nächsten zwei Jahren mal eben um 6 Milliarden Euro.

Mögen Rentner durch Armut gedemütigt werden und Pflegebedürftige früher sterben, Hauptsache, die Schwarze Null lebt, das scheint Ihre Logik zu sein. Was für eine unglaubliche Politik!

Die Würde des Menschen ist unantastbar, das ist der oberste Verfassungsgrundsatz der Bundesrepublik. Er gilt auch für Ältere, Kranke und Pflegebedürftige. Und er steht ausdrücklich nicht unter Finanzierungsvorbehalt.

Deshalb fordere ich Sie auf: Beenden Sie die unwürdige Zwei-Klassen-Medizin. Schaffen Sie eine Bürgerversicherung, in der jeder nach Maßgabe seines Einkommens einzahlt und bei Krankheit und Pflege Leistungen auf höchstem Standard erhält. Krankheit ist keine Ware, die sich als Objekt von Renditejägern eignet.

Ihre Kürzung des Zuschusses zum Gesundheitsfond zeigt allerdings noch in anderer Hinsicht, wie unehrlich ihre Politik ist. Auch das Mantra "keine Steuererhöhungen" gehört ja zu den Gebetsformeln, die diese Regierung unablässig vor sich hinmurmelt. Sie wissen aber ganz genau, dass die Kürzung des Bundeszuschusses zu Beitragserhöhungen bei vielen Krankenkassen führen wird, die das Nettoeinkommen normaler Bürger genauso verringern wie eine Steuererhöhung.

Aber richtig, es gibt natürlich einen wichtigen Unterschied: eine Beitragserhöhung bezahlen ausschließlich die gesetzlich Versicherten, also vor allem die Arbeitnehmer; sie belastet Normalverdiener prozentual mehr als Spitzenverdiener, und sogar Menschen mit sehr wenig Einkommen, die von höheren Einkommenssteuern nicht betroffen wären, müssen zahlen.

Ihr ganzes Gerede gegen Steuererhöhungen ist also vollkommen verlogen. Sie haben überhaupt keine Skrupel, den normalen Beschäftigten, der heute schon knapp die Hälfte seines Einkommens für Steuern und Abgaben bezahlt, noch mehr zu belasten. Sie predigen, keine Steuererhöhungen, aber was Sie in Wahrheit meinen, ist: keine Steuererhöhungen für Reiche. Das ist es doch, worum es Ihnen geht.

Aber offenbar hat Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, noch niemand den Zusammenhang zwischen Schulden und Vermögen erklärt. Geld verschwindet nämlich nicht, es wechselt immer nur den Besitzer.

In den letzten 15 Jahren hat in Deutschland unter Ihnen, Frau Merkel, und unter Ihrem Vorgänger Schröder besonders viel Geld den Besitzer gewechselt: Milliarden, die einst der Allgemeinheit gehörten, sind auf private Konten gewandert - durch Steuergeschenke an Unternehmen und Vermögende und durch die milliardenschwere Bankenrettung.

Im Ergebnis haben sich in den letzten 15 Jahren die öffentlichen Schulden, aber eben auch die privaten Vermögen der Millionäre und Multimillionäre mehr als verdoppelt.

Und weil Schulden und Vermögen zusammengehören, deshalb wäre die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer auch keine Enteignung, sondern schlicht eine Rückgabe: sie würde dafür sorgen, dass das Geld endlich mal wieder umgekehrt den Besitzer wechselt: weg von den privaten Konten der Multimillionäre, und hin zu einer besseren Bildung, guten öffentlichen Infrastruktur, besserer Pflege und ordentlichen Renten.

Ihre Schuldenbremse, Frau Merkel, heißt Sozialabbau. Unsere Schuldenbremse heißt Millionärssteuer, hier liegt das Geld, das die öffentliche Hand vom Bund bis zur Kommune braucht, um endlich wieder ihre Aufgaben zu erfüllen.

Es fällt übrigens auf, dass es auch wieder nur die Vermögen der Reichen sind, mit denen Sie so rücksichtsvoll umgehen. Bei den Vermögen der kleinen Leute sind Sie viel weniger zimperlich. Die auch durch ihre Europapolitik und Ihre Kürzungsdiktate verursachte Dauerkrise im Euroraum ist ja der eigentliche Grund für die aktuellen Niedrigzinsen.

In der Konsequenz gibt es für den normalen Sparer mittlerweile kaum noch Anlagen, die auch nur den Werterhalt sichern.

Anders als der Millionär, der im Schnitt auf sein Vermögen Renditen zwischen 5 und 10 Prozent einfährt, zahlt der Kleinsparer also längst mit seinen Spargroschen für Ihre falsche Krisenpolitik.

Aber diese Enteignung der kleinen Leute stört sie offenbar nicht im geringsten, das lassen sie laufen, nur an die Vermögen des Geldadels, da wollen sie nicht ran! Und das nennt sich dann Volkspartei, eine Partei, die zuläßt, dass das Volk enteignet wird, weil sie zu feige ist, sich das Geld bei den oberen Zehntausend zu holen, um damit eine vernünftige Antikrisenpolitik zu finanzieren.

Aber das gilt ja leider nicht nur für die CDU. Herr Gabriel hat sich ja mittlerweile auf die Fahne geschrieben, auch bei der SPD die Vermögenssteuer programmatisch zu entsorgen.

Man muss schon sagen, dieser SPD-Vorsitzende arbeitet wirklich hart daran, die SPD bei ihren Wählern so unglaubwürdig und klein zu halten, dass sie auf absehbarer Zeit ganz sicher keine Chance mehr aufs Kanzleramt hat.

Eine Partei, deren Vorsitzende diese Strategie bis zur letzten Konsequenz verfolgt haben, ist bekanntlich die FDP, aber es gibt, das muss zu ihrer Ehrenrettung gesagt werden, tatsächlich ein unsoziales Gesetz, das an ihr gescheitert war. Ich rede von dem Gesetz zur sogenannten Tarifeinheit. Es ist wirklich unglaublich, dass dieses Gesetz jetzt ausgerechnet mit Hilfe der SPD wieder auf die Tagesordnung gehievt wird.

Schon der Name des geplanten Gesetzes ist der blanke Hohn. Tarifeinheit, "Ein Betrieb - ein Tarif" soll wieder gelten? Ich darf sie, werte Damen und Herren von der SPD, daran erinnern, dass sie selbst es waren, die dieses Prinzip zerstört haben, dass sie es waren, die mit ihren Agenda-Gesetzen den Unternehmen ermöglicht haben, ihre Belegschaften aufzuspalten in Leiharbeiter, Werkvertragler, Minijobber, befristetet Beschäftigte - selbstverständlich alle mit unterschiedlichen Tarifen.

Sie haben damit die Gewerkschaften in vielen Bereichen nahezu streikunfähig gemacht, denn bestreiken Sie mal einen Betrieb, in dem zu einem Drittel Leiharbeiter und zu einem Drittel Werkvertragler arbeiten und das restliche Dritte vielleicht zur Hälfte auch nur noch befristete Verträge hat.

Einen solchen Betrieb kann man nicht bestreiken, und entsprechend schlecht ist ja auch die Lohnentwicklung, seit Sie diese Gesetze eingeführt haben.

Und jetzt sind kleinere Gewerkschaften entstanden, die man nicht so leicht mit der Leiharbeitskeule erschlagen kann, und plötzlich fällt ihnen auf Anregung der Arbeitgeberverbände die Tarifeinheit ein! Was für eine Heuchelei, es geht doch gar nicht um Einheit der Tarife, es geht um die Abwürgung von Streikfähigkeit!

Wenn Sie wirklich der Tarifeinheit wieder zum Durchbruch verhelfen wollen, dann nehmen Sie ihre Agenda Gesetze zurück, verbieten Sie Leiharbeit und den Missbrauch von Werkverträgen, verbieten Sie sachgrundlose Befristung, die den Beschäftigten in ständiger Abhängigkeit und Angst hält.

Das wären Reformen, die dieses Land voranbringen würden. Aber dafür müsste man natürlich den Mut haben, sich mit dem "Raubtier der organisierten Unternehmerinteressen" anzulegen.

Man hat allerdings den Eindruck, es gibt etwas, das Ihnen, Frau Merkel, noch wichtiger ist als die Interessen der deutschen Wirtschaft, und das sind die Interessen der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Wirtschaft.

Bei Ihrer Rede in Sydney haben Sie sich darüber empört, dass es 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch "altes Denken in Einflusssphären" gibt, "das das internationale Recht mit Füßen tritt". "Wer hätte das für möglich gehalten", werden Sie zitiert.

Also, da fragt man sich doch ernsthaft: Frau Merkel, wo leben Sie eigentlich? Und wo haben Sie in den letzten Jahren gelebt?

Wo haben Sie gelebt, als die USA das internationale Recht im Irak mit Füßen getreten haben, um ihre Einflusssphäre auf das irakische Öl auszuweiten?

Wo waren Sie, als unter Beteiligung Deutschlands das internationale Recht in Afghanistan mit Füßen getreten wurde? Wo waren Sie, als Libyen bombardiert wurde oder als die syrische Opposition gegen Assad vom Westen aufgerüstet wurde, Waffenlieferungen an den IS eingeschlossen?

War das alles nach Ihrer Meinung in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht? Und selbstverständlich ging es da auch nie um Einflusssphären?

Ich darf Ihnen die Lektüre eines Buches von Zbigniew Brzezinski empfehlen, langjähriger Vordenker der US-Außenpolitik. Das Buch aus dem Jahr 1997 trägt den schönen Titel "Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft".

In Bezug auf Europa plädiert Brzezinski für eine konsequente NATO-Osterweiterung, zunächst nach Mitteleuropa, dann nach Süden und über die baltischen Republiken, schließlich bis zur Ukraine. Und zwar weil, wie der Autor schlüssig begründet, "mit jeder Ausdehnung… automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten" erweitert wird.

Dieses "alte Denken in Einflusssphären", das ja sehr erfolgreich umgesetzt wurde, das ist Ihnen wirklich nie aufgefallen, Frau Merkel? Wenn Sie tatsächlich so naiv sind, dann wären Sie schon allein deshalb für die Führung eines großen Staates ziemlich ungeeignet.

Zumal Sie doch selbst zu den europäischen Vasallen, um in der Sprache Brzinskis zu bleiben, gehörten, die die USA bei der Umsetzung ihrer Strategie unterstützt haben.

Und jetzt haben Sie Deutschland in die Neuauflage eines Kalten Krieges mit Russland hineingetrieben, der das politische Klima vergiftet und den Frieden in ganz Europa gefährdet. Sie haben einen sinnlosen Wirtschaftskrieg mitangezettelt, der der deutschen wie der europäischen Wirtschaft massiv schadet.

Sie warnen vor einem Flächenbrand, aber, Frau Merkel, Sie gehören doch zu denen, die mit brennendem Zündholz herumlaufen. "Verbale Aufrüstung war noch immer der Anfang von Schlimmerem", hat Ihnen Hans-Dietrich Genscher nach Ihrer Rede in Sydney zugerufen.

Nein, man muss Putin nicht mögen, und man muss auch den russischen Kapitalismus mit seinen Oligarchen nicht mögen. Aber Diplomatie heißt, die Interessen des Gegenübers ernst nehmen, und sich nicht ignorant über sie hinwegsetzen.

Es fällt auf, dass Helmut Kohl und Michael Gorbatschow, inzwischen fast wortgleich warnen, dass es ohne deutsch-russische Partnerschaft keine Stabilität und keine Sicherheit in Europa gibt. Der frühere SPD-Vorsitzende Platzeck hat darauf hingewiesen, dass der Handel zwischen Russland und in den USA in diesem Jahr gewachsen ist während Europa, und gerade die deutsche Wirtschaft Milliardeneinbrüche verzeichnet.

Als Reaktion arbeitet ihre Partei daran, vermeintliche Russland-Versteher wie Platzeck aus dem Petersburger Dialog herauszudrängen.

Statt auf Verstehen setzen Sie offenbar lieber auf Unverstand. In der Ukraine kooperieren Sie mit einem Regime, in dem wichtige Funktionen des Polizei- und Sicherheitsapparats mit ausgewiesenen Nazis besetzt werden. Poroschenko redet vom "totalen Krieg" und hat die Krankenhäuser und Rentner in der Ostukraine von allen Zahlungen abgeschnitten. Und für Premier Jazenjuk sind die Aufständischen "Unmenschen, die es auszulöschen" gelte.

Statt sich mit solchen Hasardeuren zu verbünden, brauchen wir endlich wieder eine deutsche Außenpolitik, der die Sicherheit und der Frieden in Europa wichtiger ist als die Anweisungen aus Washington. In einem Jahr, in dem sich der Beginn des ersten Weltkrieg zum 100. Mal jährt und der des Zweiten zum 75., wäre es dringend an der Zeit, sich an die Aussage Willy Brandts zu erinnern: Krieg ist nicht die ultima ratio. Krieg ist die ultima irratio." Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein.

Deshalb: Kehren Sie auf den Weg der Diplomatie zurück. Stellen Sie die Sanktionen ein. Und sollten in der SPD tatsächlich die Stimmen der außenpolitischen Vernunft die Oberhand gewinnen, von Helmut Schmidt bis Matthias Platzeck: dann hören Sie auf Ihren Koalitionspartner. Beenden Sie die Ausgrenzung Russlands und das Spiel mit dem Feuer.

Ich fasse zusammen: Ihre Politik spaltet Deutschland und versündigt sich an der Zukunft, weil Sie nicht den Mut haben, sich den organisierten Interessen von Banken und Konzernen entgegenzustellen.

Sie haben das Erbe der Entspannungspolitik verspielt und Europa in einen neuen Kalten Krieg und an den Rand eines Flächenbrands geführt, weil Sie nicht den Mut haben, der US-Regierung Paroli zu bieten.

Das ist keine Bilanz, auf die Sie stolz sein sollten. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes jedenfalls haben eine bessere Politik verdient.

Eine, die den Anspruch, Wohlstand für alle, endlich wieder ernst nimmt und die zurückkehrt zu einer Politik der guten Nachbarschaft mit allen europäischen Nachbarn.