Zum Hauptinhalt springen
Katja Kipping

Für eine Gesellschaft frei von Armut und Angst

Rede von Katja Kipping in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Preis der schwarzen Null

Wann immer es um den Haushalt ging, hat diese Regierung stolz unterstrichen, dass sie ab 2015 einen ausgeglichenen Haushalt, also unter dem Strich eine schwarze Null, anstrebt. Aber schauen wir uns die Faktenlage doch einmal genau an: Allein der Finanzmarktstabilisierungsfonds hat ein Defizit von 25 Milliarden Euro eingefahren; das ist im Haushalt nicht eingebucht.

Verschiedene Maßnahmen werden über die Sozialversicherung finanziert; ich finde, das ist ein Buchungstrick. Infolgedessen schmelzen die Sicherheitspolster der Sozialkassen. Halten wir also fest: Schwarz-Rot bezahlt Wahlgeschenke aus den Krisenpolstern der Sozialkassen. Durch diesen Buchungstrick watet Deutschland knietief im Dispo. Ich finde, es ist nicht hinnehmbar, dass am Ende die Rentnerinnen und Rentner und die Verbraucherinnen und Verbraucher die Rechnung für diesen Buchungstrick zahlen müssen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich die prozentuale Beteiligung der Unternehmen am Sozialbudget über die Jahre verändert hat. Noch Anfang der 90er-Jahre hat die sogenannte Arbeitgeberseite immerhin ein Drittel des Sozialbudgets weggetragen; inzwischen ist es nur noch ein Viertel. Wenn also die Unternehmen und Konzerne weniger bezahlen, dann heißt das im Klartext: Die privaten Haushalte und die öffentlichen Kassen müssen mehr wegtragen.

Vor diesem Hintergrund wäre es eine sinnvolle Reaktion gewesen, die Konzerne stärker per Steuer heranzuziehen. Aber Sie haben gleich zu Beginn der Wahlperiode festgelegt: Wir wollen keine höhere Körperschaftsteuer, wir wollen keine Millionärssteuer, wir wollen keinen höheren Spitzensteuersatz.

Auf der anderen Seite fehlt Geld, und zwar vom Bund bis zur Kommune. Dem Bund fehlt Geld, um zum Beispiel die Mitte, die am Steueraufkommen bisher überproportional beteiligt ist, zu entlasten. In der Kommune fehlt Geld für Kitas und für barrierefreien Bus- und Bahnverkehr.

Ganz offensichtlich fehlt auch Geld, um den Hebammen zu helfen. Wir haben hier schon mehrmals darüber gesprochen: Die explodierenden Haftpflichtprämien treiben viele Hebammen in den Ruin. Es gäbe eine Lösung, und zwar einen öffentlichen Haftungsfonds. Wir haben dafür geworben, aber Ihr Gesundheitsminister hat dieses Vorhaben abgelehnt. Die Hebammen lassen Sie also im Regen stehen. Als es allerdings darum ging, einen Rüstungsexport nach Saudi-Arabien mit einer Hermesbürgschaft in Milliardenhöhe abzusichern, waren Sie sofort dabei.

Allein diese Gegenüberstellung ist entlarvend für den Geist der schwarz-roten Regierung. Diejenigen, die bei der Ankunft im Leben helfen - das sind Hebammen -, lassen Sie im Regen stehen. Denjenigen, die Geschäfte mit dem Tod machen - bei Rüstungsexporten geht es um nichts anderes als um Geschäfte mit dem Tod -, greifen Sie sofort unter die Arme. Das ist entlarvend, und das ist beschämend! Sie stehen hier einfach auf der falschen Seite!

Nicht nur in dieser Frage ist bezeichnend, auf welcher Seite Sie stehen. Wenn zum Beispiel die Frage im Raum steht: "Bitten wir Millionäre stärker zur Kasse, um die Mitte zu entlasten?", stehen Sie auf der Seite der Millionäre, während wir ganz klar sagen: Unser Platz ist an der Seite der Mitte und auf der Seite derjenigen, die keine Lobby haben. Wenn zum Beispiel die Frage im Raum steht: "Ziehen wir die sogenannte Arbeitgeberseite stärker heran, um Privathaushalte zu entlasten?", ist Ihr Platz ganz eindeutig aufseiten der Konzerne, unserer jedoch bei den privaten Haushalten, und da sind wir richtig. Wenn es zum Schwur kommt, steht diese Regierung beständig aufseiten der großen Vermögen, der großen Profite, aufseiten der Besitzenden. Wir hingegen stehen auf der Seite der Mitte.

Die schwarze Null, die Sie für 2015 anstreben, wirft einen langen Schatten und hat einen verdammt hohen Preis. Zu diesem Preis gehört nicht nur, dass Sie die Sozialversicherung ausplündern; zu diesem Preis gehört auch, dass wichtige Zukunftsinvestitionen ausbleiben. Sie sind so auf diese schwarze Null fixiert, dass Sie die großen gesellschaftlichen Aufgaben komplett ignorieren.

Einsatz für einen sozial-ökologischen Umbau im Sinne Klimagerechtigkeit

Zu diesen großen gesellschaftlichen Aufgaben gehört erstens ein sozialökologischer Umbau im Sinne der Klimagerechtigkeit, zweitens der Kampf gegen Armut, drittens etwas zu tun gegen die um sich greifende Angst, die disziplinierend wirkt, und der Einsatz für ein soziales Europa. Gehen wir die Aufgaben einmal im Einzelnen durch:

Der sozialökologische Umbau wird - ein bisschen strahlen Sie das heute immer noch aus - eher als ein Randthema, als ein Thema für Ökos behandelt. Aber der Weltklimabericht hat uns die Brisanz deutlich vor Augen geführt. Weltweit sind Millionen Menschen von Dürre oder Überschwemmung bedroht, und ursächlich dafür ist die von der Menschheit verursachte Klimaerwärmung. Der Klimabericht macht eines deutlich: Ein Weiter-so ist existenzielle Brandstiftung. Diesen Bericht ernst nehmen, heißt ganz klar: Wir müssen den sozialökologischen Umbau voranbringen.

Aber was passiert unter Schwarz-Rot? Unter Schwarz-Rot verkommt selbst das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu einer reinen Industriesubventionierung. Das ist nicht nur unsere Einschätzung; das ist auch die Einschätzung des BUND. Um die Profite der Großindustrie zu schützen, bremsen Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien aus, und Sie lassen ihn am Ende auch noch von den privaten Verbraucherinnen und Verbrauchern bezahlen. Das ist unsozial und unökologisch zugleich. Das ist ein Kunststück, das man erst einmal hinkriegen muss.

Wir meinen, es braucht stattdessen eine stärkere Förderung der erneuerbaren Energien. Die erneuerbaren Energien müssen dezentral organisiert sein. Ich finde, dieses Vermächtnis von Hermann Scheer dürfen Sie nicht einfach übergehen. Vor allen Dingen muss das Ganze sozial finanziert werden; denn es darf nicht sein, dass die Ärmeren im Winter auf Wärme verzichten müssen.

Kampf gegen Armut

Zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen gehört auch der Kampf gegen Armut. Sicherlich, mit Ihrem Rentenpaket haben Sie einige Trippelschritte in die richtige Richtung gemacht. Wenn Sie jetzt so stolz darauf sind: Viele Jahre lang sind Sie in die falsche Richtung gelaufen. Das zentral zugrundeliegende Problem in der Rente gehen Sie nicht an, nämlich dass die Rente immer weniger sicher vor Altersarmut schützt. Das Rentenniveau von einst 53 Prozent sinkt auf 43,7 Prozent im Jahr 2030. Das klingt jetzt erst einmal technisch. Die Folge davon ist aber, dass auch Menschen mit einem mittleren, durchschnittlichen Einkommen in Zukunft nicht mehr vor Altersarmut geschützt sind, und Sie - Sie alle; wir Linken sind da die Ausnahme - haben diese Entwicklung mitgetragen. Ich finde, Sie sollten das Problem ernst nehmen und endlich dafür sorgen, dass das Rentenniveau nicht weiter sinkt und dass eine solidarische Mindestrente vor Altersarmut schützt.

Wenn es um die Armut der Erwerbslosen geht, dann versuchen Sie noch nicht einmal, den Anschein zu erwecken, dass Ihnen dieser Punkt wichtig ist. Kurzum: Beim Kampf gegen Armut betreiben Sie eines - Arbeitsverweigerung.

Menschen, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, müssen ihre Arbeitsbereitschaft beweisen und ihren Mitwirkungspflichten nachkommen. Wenn sie dies nicht tun, drohen Sanktionen: erst 30 Prozent, dann 60 Prozent und dann komplett. Die Linke lehnt diese Regelung ab. Aber ich finde, man sollte Sie durchaus an den Regelungen messen, die Sie für andere getroffen haben. Beim Kampf gegen Armut verletzt diese Regierung ihre Mitwirkungspflichten, betreibt diese Regierung Arbeitsverweigerung. Ich finde, dies ist ein klassischer Fall für eine Sanktion: erst von 30 Prozent, dann von 60 Prozent und danach vielleicht eine Vollsanktionierung.

Herausforderung: Zunehmende Kultur der Angst

Zur dritten großen gesellschaftlichen Herausforderung. Wir haben in diesem Land eine Zunahme von disziplinierender Angst; sie hat ganz unterschiedliche Facetten. Da ist zum einen die junge Wissenschaftlerin, die immer nur Arbeitsverträge von einem bis zwei Jahre bekommt und die mit ihrem Partner seit Jahren eine Pendelbeziehung führt, weil beide niemals in der gleichen Stadt zumindest einen kurzfristigen Arbeitsvertrag haben. Wir wissen, das ist kein Einzelfall. Die Zahl der sachgrundlosen Befristungen ist explodiert. Inzwischen haben wir 1,3 Millionen sachgrundlose Befristungen. Sie könnten hier etwas tun. Sie könnten einfach die sachgrundlose Befristung abschaffen. Wir als Linke haben Ihnen diesen Vorschlag vorgelegt. Sie müssten nur dafür stimmen. Dann wäre schon viel geholfen.

Da ist zum anderen die Sorge eines Beschäftigten in der Kernbelegschaft, der sich bisher sicher gefühlt hat. Aber tagtäglich bekommt er jetzt durch die Leiharbeiter, die immer nur für einige Monate eingesetzt werden, vor Augen geführt, dass man die gleiche Arbeit in der gleichen Zeit für die Hälfte des Geldes machen kann. Das wirkt natürlich disziplinierend und ruft die Angst hervor, ersetzbar zu sein. Hier könnten Sie etwas tun. Sie könnten französische Verhältnisse schaffen. Das heißt: vom ersten Tag an gleicher Lohn für gleiche Arbeit plus eine 10-prozentige Flexibilitätszulage.

Zur zunehmenden Angstkultur gehört natürlich auch die Angst der Erwerbslosen vor Sanktionen, die wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebt. Sie macht die Leute gefügig und führt dazu, dass sie in Anstellungsgesprächen schlechte Löhne akzeptieren. Die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen könnte sehr viel bewirken, und deswegen ist dies für mich eine Herzensangelegenheit.

Auch der zunehmende Druck, ständig am Limit arbeiten zu müssen, und die Angst, von überbordenden Überstunden erdrückt zu werden und nicht mithalten zu können, macht viele Menschen krank. Wenn es uns gelänge, kürzere Arbeitszeiten für alle als Standard zu etablieren, wäre dies ein enormer Fortschritt. Dafür setzen wir uns ein.

Einsatz für ein soziales Europas

Zu den großen gesellschaftlichen Aufgaben gehört auch der Einsatz für ein soziales Europa. Dabei geht es auch darum, die Spaltung Europas zu verhindern. Für den Europakurs dieser Regierung war der Besuch von Außenminister Steinmeier in Griechenland zu Beginn dieses Jahres bezeichnend. Im Wahlprogramm der SPD war noch zu lesen, Merkels Europapolitik sei - ich zitiere - "kaltherzig". Sie sprachen in Ihrem Wahlprogramm von sozialen Verwerfungen. Doch wie agierte Herr Steinmeier, als er dann Außenminister war? Kritisierte er womöglich den Kurs der Troika und wies auf die sozialen Verwerfungen hin? Nein, er lobte in Athen - ich zitiere - "den ersten Teil des Weges, den Griechenland gegangen ist". Er sagte, er sei überzeugt, die Regierung verfüge über die Entschlossenheit, den Weg fortzusetzen. Ich weiß sehr wohl, dass man Sie nicht für alle Entwicklungen in Griechenland direkt persönlich in Haftung nehmen kann. Aber wenn Sie in Griechenland den Weg loben, dann müssen Sie auch wissen, dass zu dem von Ihnen so gelobten Kürzungskurs gehört, dass das griechische Gesundheitssystem wirklich an den Rand des Kollapses getrieben worden ist. Lebensnotwendige Herz-OPs können dort nicht mehr durchgeführt werden, weil Gefäßstützen fehlen. Krebspatienten müssen auf lebensnotwendige Medikamente verzichten. Ärzte ohne Grenzen ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Drittel der griechischen Bevölkerung kaum noch Zugang zur medizinischen Versorgung hat. Deutschland hat den Spardruck innerhalb von Europa stark gemacht. Dieser Spardruck führt zu einem Kürzungsdruck. Er führt dazu, dass in Griechenland nicht einfach an Luxus gespart wird, sondern dass lebensnotwendige Maßnahmen unterlassen werden. Deswegen sage ich: Das Kürzungsdiktat hat inzwischen ein Ausmaß angenommen, dass man bei lebensbedrohlichen Krankheiten von einer unterlassenen Hilfeleistung sprechen muss. Deswegen steht für uns fest: Wahre Europäerinnen und Europäer verzichten auf das Kürzungsdiktat. Wahre Europäerinnen und Europäer setzen stattdessen auf ein Europa der sozialen Rechte. Ja, wir setzen auf ein Europa, das an der so schlichten und doch bemerkenswerten Vision von Theodor Adorno anknüpft: Zart wäre einzig das Gröbste: daß niemand mehr hungern soll. Das heutige Europa ist davon weit entfernt. Dazu trägt auch Ihre Kürzungspolitik bei.

Zusammenfassung

Frau Merkel, so mancher meint, das zentrale Problem Ihrer Regierung wäre, dass Sie sich streiten.

So mancher meint, Sie wären selbst für einen guten Paartherapeuten ein verdammt schwieriger Fall. Ich meine, das große Problem der schwarz-roten Regierung liegt in der Ignoranz gegenüber den großen gesellschaftlichen Aufgaben. Sie ignorieren die sozialen Verwerfungen in diesem Land. Sie ignorieren den wachsenden Reichtum in den Händen einiger weniger. Beim Kampf gegen Armut betreiben Sie Arbeitsverweigerung und bei der Energiewende stehen Sie Seit' an Seit' mit Sigmar Gabriel auf der Bremse. Ihre Europapolitik spaltet Europa. Das ist der falsche Kurs.

Ich jedoch meine, diese Gesellschaft braucht wahrlich kein weiteres Artenschutzprogramm für die großen Profite. Diese Gesellschaft braucht vielmehr vollen Einsatz für einen sozialökologischen Umbau im Sinne der Klimagerechtigkeit. Diese Gesellschaft braucht wahrlich kein weiteres Förderungsprogramm für Millionäre. Diese Gesellschaft braucht vielmehr vollen Einsatz für Umverteilung, gegen Armut, für ein Europa der sozialen Rechte. Wir, die Linke, streiten für eine Gesellschaft, die frei ist von der Bürde der disziplinierenden Angst, die frei ist von Armut. Ja, dafür stehen wir.