Fünf Schritte, um Armut in Europa abzuschaffen und die Ungleichheit zu verringern
Seit Jahren nehmen Armut und soziale Ungleichheit in Europa zu. Das neoliberale Versprechen, durch wirtschaftliche Entwicklung entstehe Wohlstand für alle: Eine Lüge. Wohlstand gibt es nur für die Reichsten. Jüngst wurde Deutschland vom Europarat gerügt, wegen der ausgeprägten sozialen Ungleichheit – die Maßnahmen gegen Armut, Wohnungslosigkeit und Ausgrenzung seien unzureichend.[1] Aktuelle Analysen der EZB zeigen eine im europäischen Vergleich hohe Vermögensungleichheit in Deutschland (vgl. Abb. 1).[2] Allein das Vermögen der fünf reichsten Deutschen ist seit 2020 inflationsbereinigt um rund drei Viertel gewachsen (von 89 auf rund 155 Milliarden US-Dollar).[3] In der EU besitzen die reichsten 10 % der EU-Bevölkerung rund 61 % des Gesamtvermögens. Die ärmere Hälfte – also 50 Prozent – der EU-Bevölkerung besitzt nur rund 2,3 % am Gesamtvermögen (Angaben für 2023).[4] Allein das Vermögen von Bernard Arnault (der reichste Mensch in Europa, der sein Geld vor allem mit Gucci und Co. macht) hat sich im Jahr 2022 von 158 auf 222 Milliarden US-Dollar erhöht.
Jede*r Fünfte in Europa ist von Armut bedroht. Das sind über 95 Millionen Menschen.[5] 20 Millionen sind zudem trotz Beschäftigung von Armut bedroht.[6]
Die EU hatte große Pläne: Sie wollte Armut in Europa mit der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ abschaffen. Ist das gelungen? Wohl kaum. Es kommt uns bekannt vor: Die Ampelregierung hatte letztes Jahr großspurig versprochen, Kinderarmut abzuschaffen. Was ist herausgekommen? Eine Kindergrundversicherung, die ihren Namen nicht verdient hat. Woran liegt’s? An der unsozialen Kürzungspolitik der neoliberalen Parteien. Dieser verfehlten Politik setzen wir unseren Ansatz für eine sozial gerechte EU entgegen, in der alle Menschen sozial abgesichert leben können. Soziale Sicherheit ist Voraussetzung für ein würdevolles Leben. Es ist klar: Armut abschaffen, das geht nicht mit Samthandschuhen. Aber wenn wir die Konzerne und Reiche in die Pflicht nehmen, ist das finanzierbar – z.B. mit einer Übergewinnsteuer für Konzerne und einer europaweiten Vermögensteuer für die Superreichen.
Unser fünf-Punkte-Plan für ein sozial gerechtes Europa ohne Armut und soziale Ausgrenzung:
1. Mindeststandards in der sozialen Sicherung
Kein Mensch in der EU soll unterhalb der Armutsschwelle leben müssen. Wir setzen uns daher für eine verbindliche EU-Richtlinie zu einem Mindesteinkommen ein. Es soll in allen EU-Mitgliedsstaaten das soziokulturelle Existenzminimum sichern, wenn keine ausreichenden eigenen Mittel verfügbar sind. Das Mindesteinkommen muss in allen Lebenslagen (Ausbildung, Studium, Erwerbslosigkeit, Alter) sicher gegen Armut schützen. Der wichtigste und EU-weit anerkannte Indikator dafür ist die sog. Armutsgefährdungsschwelle, die bei einem (bedarfsgewichteten) Haushaltseinkommen von weniger als 60 % des nationalen Medianeinkommens festgelegt ist. Niemand in der EU soll künftig mehr unter diese Schwelle rutschen.
- Wir wollen verbindliche Mindeststandards in den sozialen Sicherungssystemen der EU-Mitgliedsstaaten (z.B. bei Erwerbslosigkeit). Soziale Standards in den EU-Ländern dürfen nur nach oben angeglichen, aber nicht abgesenkt werden („Aufwärtskonvergenz“).
- Wir fordern wir einen automatischen Anpassungsmechanismus für soziale Leistungen, etwa bei Preissteigerung und Inflation.
In Deutschland liegt diese Schwelle bei 1.250 Euro. Das muss die Untergrenze in allen Sozialleistungen und Transferzahlungen sein: Sozialhilfe, Bürgergeld, Mindestrente. Vertreter*innen der Jugendorganisation von SPD und Grüne haben sich in diese Richtung geäußert. Ihre Mutterparteien in der Regierung aber liefern nicht.
2. Schluss mit der 2-Klassen-Medizin
Dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht, hat ganz konkret Einfluss auf die Lebenserwartung: Frauen in der höchsten Einkommensgruppe haben eine um mehr als 4 Jahre höhere Lebenserwartung als Frauen in der niedrigsten Gruppe. Bei Männern beträgt diese Differenz mehr als acht Jahre.[7]
- Die EU-Politik muss verbindliche Mindeststandards für die Gesundheitsversorgung setzen, die allen in der EU lebenden Menschen garantiert werden. Diese Mindeststandards sollten Umfang und Qualität der Versorgung bestimmen. Non-Profit-Gesundheitsversorgung muss dabei Vorrang erhalten.
- In Deutschland muss gleich gute Versorgung für alle Patient*innen hergestellt werden: Alle zahlen in die gesetzliche Gesundheitskasse ein, alle Einkommen werden verbeitragt.
- In §1 des Krankanhausfinanzierungsgesetzes wird (wieder) vermerkt, dass Krankenhäuser keinen Gewinn erwirtschaften.
3. Kindergrundsicherung
Rund 20 Millionen Kinder in Europa sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.[8] Das ist jedes vierte Kind (24,7 %). Dieser erschreckend hohe Wert gilt auch für die Kinderarmut in Deutschland (23,9 %). Kinderarmut muss mit einer Gesamtstrategie begegnet werden. Sie ist immer auch Familien-Armut und Einkommensarmut der Eltern. Um sie wirksam bekämpfen zu können, sind mindestens a) (infra)strukturelle Maßnahmen notwendig und b) Geld.
Zentraler Bestandteil bei der Abschaffung von Kinderarmut ist eine Kindergrundsicherung. Die Bundesregierung ist hier spektakulär gescheitert. Die Linke fordert mit dem Bündnis Kindergrundsicherung aus 14 Verbänden eine Kindergrundsicherung von 630 Euro (für die ärmsten Familien).
Die Umsetzung kann so aussehen: Als Sofortmaßnahme erhöhen wir das Kindergeld für alle Kinder auf 328 Euro monatlich. Es wird einkommensunabhängig an alle Familien gezahlt. Kinder aus armen Familien erhalten zusätzlich als Sofortmaßnahme zum Kindergeld einen nach Alter gestaffelten Zuschlag bis zu 302 Euro. Außerdem sollen auch für Kinder die tatsächlichen Unterkunftskosten sowie einmaliger und besonderer Bedarf (Klassenfahrten, IT-Ausstattung u. ä.) berücksichtigt werden.
4. Ernst machen mit der Europäischen Kindergarantie: Gleich gute Erziehung, Bildung, Ernährung, Wohnen
Die Europäische Kindergarantie sichert allen Kindern und Jugendlichen die soziokulturelle Teilhabe und ein gleichberechtigter und diskriminierungsfreier Zugang zu kostenloser Bildung und Erziehung, Gesundheitsversorgung, gesunder Ernährung, mindestens eine Mahlzeit in der Schule und altersgerechter Unterkunft ermöglicht wird.
2022 sollten die Mitgliedstaaten Strategien vorlegen, um das zu erreichen. Das Ergebnis für Deutschland ist erschütternd: 400 000 Kitaplätze fehlen, 13 Mrd. Investitionsrückstand. Kostenfreies Mittagessen in den Schulen – Fehlanzeige. Die neusten Zahlen belegen: Der Investitionsstau in den Schulen liegt bei knapp 55 Mrd.[9] Euro: marode Schulklos, gesperrte Turnhallen. Es fehlen hunderttausende Erzieher*innen und Lehrkräfte. Wer es sich leisten kann, weicht auf Privatschulen aus. Statt Kindergarantie Spaltung der Kindergesellschaft. Die Zwei-Klassen-Medizin besteht weiter.
- Es braucht einen Notfallplan für die Öffentliche Daseinsvorsorge. Sonst wird das Netz, dass die Gesellschaft zusammenhält, zerstört.
- Die EU-Verträgen und -Richtlinien müssen so verändert werden, dass sie nicht länger auf Profit und Privatisierung drängen. Stattdessen fordern wir eine Mindest-Investitionstrate ins Öffentliche. Nur öffentlicher Daseinsvorsorge garantiert allgemeinen Zugang und einen Beitrag zur Abschaffung von Armut.
- Wir wollen ein wirkliches Teilhabegesetz für Kinder und Jugendliche. Die jetzigen Bestimmungen in Paragraf 13 SGB VIII sind bloße Absichtserklärungen. Wir wollen sie zu einem Rechtsanspruch auf soziale Teilhabe machen
- Um (alters)angemessene Unterbringung für alle Kinder zu garantieren, müssen die Mieten gedeckelt werden und der Bestand der Sozialwohnungen so erhöht werden, dass der Bedarf gedeckt werden kann. Es fehlen mindestens knapp 1 Mio Sozialwohnungen[10], 5 Millionen für Menschen mit geringem Einkommen.
- Die Regierung muss dringend ein Programm auflegen, dass jedem Kind ein kostenfreies Mittagessen in Kitas und Schulen garantiert.
Finanzierung:
- Dauerhaft kann die verbesserte Daseinsvorsorge über Einnahmen aus der Vermögensteuer (Ländersteuer) finanziert werden: Steuersatz 1-5% von 1 bis 50 Mio Vermögen, 12% für Vermögen oberhalb von 1 Mrd. Euro.
- Investitionen in die Öffentliche Daseinsvorsorge dürfen nicht mehr auf die Schuldenregeln angerechnet werden, hier werden langfristige Werte geschaffen
- Schuldenbremse und Fiskalpakt gehören abgeschafft.
- Mit einem EU-Kommunalisierungsfonds unterstützen wir Kommunen, privatisierte Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Wohnungsbestände etc. in öffentliche Trägerschaft (zurück-)zu führen.
5. Die Einkommensungleichheit angehen: Mindestlohn hoch – Höchstlöhne runter!
Die soziale Schere zwischen Superreichen und denen, die nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen geht auch aufgrund der Ungleichheit der Einkommen in Europa immer weiter auseinander.Während Beschäftigte für höhere Löhne streiken müssen, die kaum die Inflation ausgleichen, wird sich auf den Manageretagen fleißig die Taschen vollgestopft und Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet, als gäbe es kein Morgen. Im Zeitraum 2020-2023 stiegen allein in Deutschland die Dividenden um 27 Prozent, die Löhne von Beschäftigten sanken hingegen um 12 Prozent (Zahlen: Oxfam). Großkonzerne machen ihre Eigentümer*innen und CEOs zu Milliardär*innen, während die Reallöhne für viele Menschen sinken.
Wir wissen durch zahlreiche Studien inzwischen: Die ungerechte Lohnverteilung gefährdet die Demokratie. Dagegen kurbeln höhere Löhne für die Mehrheit und Höchstlöhne für die Reichen die Binnenkonjunktur an und verringern die Ungleichheit.
- Wir fordern daher, dass hierzulande nicht nur der gesetzliche Mindestlohn endlich auf 15 Euro angehoben wird, sondern es nun auch einen Höchstlohn, d.h eine gesetzliche Obergrenze für Gehälter gibt.
Deutschland kann hier Modell- und Leuchtturmprojekt sein, was dann auf ganz Europa übertragen wird, um die Ungleichheit bei den Löhnen zu bekämpfen.
- Der Lohn ist dann sittenwidrig hoch, wenn er - bezogen auf ein einzelnes Unternehmen - das Zwanzigfache des Vollzeitlohns in der niedrigsten Lohngruppe des Unternehmens überschreitet.
Es ist niemandem zu erklären, wieso eine Krankenschwester, ein Bahnfahrer oder ein Arbeiter am Band über 20-mal weniger verdienen soll als die Chefetage. Die erbrachte Leistung kann diese Lücke sicher nicht rechtfertigen.
[1] Vgl. https://rm.coe.int/country-visit-report-on-germany-dunja-mijatovic-council-of-europe-comm/1680aef23f
[2] Unter den drei großen Wirtschaftsmächten der EU weist Deutschland mit 0,77 den höchsten Wert für die Vermögensungleichheit auf, gefolgt von Frankreich (0,71) und Italien (0,70).
[4] Vgl. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2024/03/05-vermoegensungleichheit-in-deutschland-und-europa.html
[5] Eurostat spricht von 95 Millionen Menschen, die in Armut leben (vgl. „Schlüsseldaten über Europa“, Ausgabe 2023, S. 27). Experten weisen darauf hin, dass die offiziellen Zahlen das tatsächliche Ausmaß der Armut in Europa unterschätzen (vgl. Dauderstädt/Keltek 2018 https://library.fes.de/pdf-files/wiso/14553.pdf )
[6] Vgl. Europäisches Parlament, Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, ENTWURF EINES BERICHTS über die Verringerung der Ungleichheiten mit besonderem Augenmerk auf der Erwerbstätigenarmut (2019/2188(INI)
[8] Vgl. https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ilc_peps01n__custom_11474555/default/table?lang=en