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Feministischer und antirassistischer Aufruf

Feministischer und antirassistischer Aufruf gegen Gewalt und für eine Politik, die das Leben ins Zentrum stel

Wir – Frauen, Lesben, trans, travesti, intersexuelle und nicht-binäre Personen, Schwarze, Indigene, Frauen of color, Arbeiterinnen, Linke, Mütter, Sorgearbeiterinnen – sind eine dynamische und machtvolle politische Kraft auf der Straße und in den Organisationen. Damit sind wir heute das lebendigste Subjekt der Veränderung. Die feministische Bewegung ist der wichtigste Antrieb für die Re-Politisierung des Lebens. Sie bezieht junge Menschen ein, um dem politischen Projekt, das von unseren Vorgängerinnen initiiert wurde, Kontinuität zu verleihen. In Argentinien ist sie Speerspitze und Schutzwall des anti-neoliberalen Widerstands. In Brasilien und Europa ist sie die Opposition gegen einen erstarkenden Rechtsextremismus und Konservatismus. In Chile war sie als treibende und organisierende Kraft zentral für die Revolte, und heute ist sie eine der wichtigsten Akteure, die den verfassungsgebenden Prozess in Richtung eines transformativen Horizonts anleiten und gestalten.

Deshalb erscheint es uns dringend notwendig, auch die politische Macht zu erobern. Mit einem Fuß in den Bewegungen und dem anderen in den Institutionen haben wir die Möglichkeit, eine Politik aufzubauen, die das Leben in den Mittelpunkt stellt – eine feministische, antiimperialistische, antirassistische, antikoloniale Politik, gegen Antiziganismus und Queerfeindlichkeit. Dieser Horizont erfordert eine tiefgreifende Demokratisierung der politischen und institutionellen Strukturen, denn die Kämpfe für soziale und demokratische Rechte sind untrennbar miteinander verbunden.

Wir sehen jedoch, dass der Weg mit Hindernissen versehen ist. Zum einen, weil die Spielregeln der Institutionen historisch gesehen für breite Bevölkerungsschichten ausschließend sind, für diejenigen, die Sorgeverpflichtungen haben, für diejenigen, die durch Prozesse der Verarmung, der Rassifizierung und der Abwertung systematisch marginalisiert worden sind. Zum anderen, weil diejenigen, die nach großen individuellen und kollektiven Anstrengungen in den Institutionen ankommen, vielfältigen Formen von Gewalt ausgesetzt sind – vor, während und nach der Wahlperiode. Diese Gewalt zielt sowohl darauf ab, uns einzuschüchtern und aus den Bewegungen zu verdrängen, als auch darauf, jede fortschrittliche Initiative zu blockieren, und ist daher eine grundlegende Frage des demokratischen Charakters der politischen Debatte. 

In diesem Internationalen Aufruf prangern wir politische und institutionelle Gewalt in all ihren Formen und in jedem Land und jeder Region an. Wir setzen uns für ein Leben ein, das es verdient, gelebt zu werden.

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Man greift an, was man fürchtet. Politische Gewalt ist das wirksamste Mittel, um zu verhindern, dass wir unsere Mandate ausführen und unsere Forderungen nach Veränderungen in institutionelle Politik übersetzen. Sie ist die Form, die die hegemoniale Macht annimmt, um den gegenwärtigen Zustand aufrechtzuerhalten. Mit Angriffen auf der körperlichen wie auf einer symbolischen Ebene und mit Hetze im Netz wird versucht, widerständige Politiken des Feminismus und der Menschenrechte zu abzustrafen und zum Schweigen zu bringen. Wir verurteilen auch den Vormarsch einer Politik, die entscheidet, wer lebt und wer stirbt, sowie von anti-feministischen Kampagnen in verschiedenen Teilen der Welt, durch die Femizide und Hassverbrechen im Allgemeinen zunehmen.

In Brasilien etabliert der Bolosonarismus ein weißes Hegemonieprojekt, das auf Rassismus und Völkermord basiert, und das auch in anderen Teilen Lateinamerikas präsent ist. Seine Politik zielt darauf ab, Frauen und Schwarze, die in Brasilien die Mehrheit bilden, zu töten, unsere Körper zu vernichten und so unsere politischen Projekte auszugrenzen. Marielle Franco wurde ermordet, weil sie eine Schwarze, queere, polizeikritische Aktivistin aus der Favela und Abgeordnete in Rio de Janeiro war. Ihr Femizid zielte gleichzeitig darauf ab, Schwarze Frauen insgesamt einzuschüchtern und zurückzudrängen. Trotzdem kandidierten in der Folge mehr Frauen und wurden demokratisch gewählt. Von ihnen sind es insbesondere die trans und Schwarzen Mandatsträgerinnen in Brasilien, die unter Hassverbrechen zu leiden haben, denn Transphobie ist Teil des hegemonialen Projekts.  

In Chile hat sich die politische Gewalt gegen Frauen, die ein demokratisch gewähltes Amt ausüben, sehr deutlich in der verfassungsgebenden Versammlung gezeigt. So wurden Vertreterinnen indigener Gruppen, wie die Präsidentin der Versammlung Elisa Loncón und die Machi Francisca Linconao, eine spirituelle Autorität der Mapuche, sowohl innerhalb der Versammlung als auch in sozialen Netzwerken wiederholt angegriffen. Ähnliche Angriffe gab es auf Umweltschützerinnen, Aktivistinnen für das Recht auf Wasser und Feministinnen. Darüber hinaus hat der faschistische Kandidat vor wenigen Tagen die Mehrheit in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erlangt, was eine Bedrohung für das Leben von Frauen, Mädchen, Queers, Migrantinnen und indigenen Gruppen darstellt.

Dies sind zwar extreme Beispiele, aber politische und institutionelle Gewalt existiert in verschiedenen Teilen der Welt und nimmt weiter zu. Im Spanischen Staat wie auch in Deutschland richtet sich die sexistische politische Gewalt insbesondere gegen Frauen, die sich in linken Organisationen engagieren, indem sie eingeschüchtert und bedroht werden. Für sie ist der digitale Raum kein Ort mehr, an dem sie sich demokratisch ausdrücken und ermächtigen können. Dies gilt auch für andere Frauen in der Öffentlichkeit wie Basisaktivistinnen, Journalistinnen und Künstlerinnen. Das haben wir wieder einmal bei dem Angriff auf die Zeitschrift Pikara im Spanischen Staat gesehen.

Auch innerhalb linker Organisationen gibt es Machismus und Rassismus und werden so rechte Denkmuster reproduziert. Oft werden unsere Rechte ausgeklammert, oft gibt es zwar diskursive Veränderungen, die aber nicht in die Praxis umgesetzt werden. Wir sagen hingegen: Wir wollen nicht nur teilnehmen, wir wollen auch über die Verteilung von Budgets entscheiden. Wir kämpfen dafür, dass unsere Parteien feministischer und antirassistischer werden, mit einer Politik nach innen wie nach außen, die das gute Leben der Vielen in den Mittelpunkt stellt.

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Unsere Vorschläge zur Demokratisierung der Politik, zum Abbau sexistischer und rassistischer Strukturen, ergeben sich aus unserer Arbeit, aus unserer gemeinsamen Erfahrung:

  • Wir müssen die Verbindung zwischen sozialen Bewegungen, den Mobilisierungen auf der Straße, unseren Organisationen und einer institutionellen Beteiligung stärken. Wenn es uns gelingt, Vertreter*innen unserer Organisationen in den Staatsapparat zu bringen, neigen die institutionellen Logiken oft dazu, sie zu individualisieren und die Beziehung zwischen den Personen und den kollektiven Strukturen zu stören. Es ist wichtig, unsere Delegierten, die eher der Gewalt ausgesetzt sind, zu schützen und zu begleiten und gleichzeitig die Formen der kollektiven Gestaltung von Mandaten, Politiken und Vorschlägen zu stärken sowie den sozialen Druck zu erzeugen, der eine Veränderung ermöglicht.
  • Wir erproben Strategien für eine direkte und demokratische Beteiligung, von der lokalen bis hin zur bundesweiten Ebene. Bei kollektiven Mandaten in Brasilien stellen wir uns als Team zur Wahl und arbeiten gemeinsam im Parlament, auch wenn formal nur eine Person als Vertreter*in zugelassen ist. Auch Quoten für Frauen oder für Schwarze und Indigene bei Kandidaturen fördern eine umfassende Veränderung der Machtverhältnisse in gemischten institutionellen Räumen und wirken als demokratisierende Mechanismen. Eine andere Strategie – die wir in verschiedenen Regionen praktizieren – besteht darin, Vertreter*innen sozialer Bewegungen und Gruppen (Arbeiter*innen, Rom*nja, Migrant*innen, Schwarze, Frauen, trans Personen, Menschen mit Behinderung) zu Anhörungen im Parlament einzuladen, damit sie ihre eigenen Forderungen vertreten und sie vor allen Abgeordneten vortragen können. Ebenso notwendig für diese Artikulation sind die Räume gemeinsamer politischer Bildung, in denen wir kollektiv Themen der institutionellen Politik und der Gesetzgebung diskutieren.
  • Wir halten es für notwendig, Strategien für Sicherheit, Fürsorge und Selbstverteidigung gegen Wirtschaftsmagnate und rechtsgerichtete Akteure, ebenso wie Protokolle gegen geschlechtsspezifische Gewalt in unseren Räumen zu entwickeln. Wir sind auch der Meinung, dass die geschlechtsspezifische und politische Gewalt im digitalen Raum in unseren linken Organisationen und in den feministischen Bewegungen thematisiert werden muss und dass es Instrumente braucht (wie z.B. internationale Protokolle zum Datenschutz, zur digitalen Sicherheit, zu Sorgfaltspflichten usw.) sowie eine umfassende Kampagne, die dieses Thema in der Gesellschaft sichtbar macht. 
  • Wir rufen zur internationalen Solidarität auf, um Frauen und queere Menschen zu schützen, die weltweit Opfer politischer Gewalt werden, und um zu verhindern, dass sie mit Drohungen oder Tod bestraft werden. Wir sind auch selbst gefordert, eigene Sicherheitsmechanismen zu entwickeln, die Strategien der Selbstsorge beinhalten, für den Schutz unter Genoss*innen, und Erfahrungen und Wissen aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenführen.

 

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In diesem Aufruf prangern wir an und wir schlagen vor. Es ist ein weiteres konkretes Instrument für unsere Selbstverteidigung und Selbstsorge, das wir dafür einsetzen, auch weiterhin auf allen Ebenen kämpfen zu können. Die politischen Räume können, müssen und sollen von uns und unseren antikapitalistischen, feministischen, antirassistischen, antikolonialen und antiimperialistischen Perspektive besetzt werden. Kein einziger Ort der Transformation ist uns fremd!

Wir wollen keine Welt mehr, in der wir Gewalt erfahren und unterdrückt werden. Wir wollen neue Lebensweisen in der Gesellschaft fördern, die auf einer Vorstellung eines guten Lebens, des buen vivir, basieren. Wir verteidigen diesen Ansatz als Teil unserer feministischen Politik, als Ausdruck für eine Welt, in der wir existieren können und Lebensfreude spüren. Denn, wie Emma Goldmann sagte: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution“.

Gegenüber der Versuche der Rechten, uns zu ersticken, erlaubt uns der Feminismus zu atmen. Wir wissen, dass es sich lohnt, sich zu wehren. Das zeigen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Argentinien und die Entkriminalisierung dieser Praxis in Mexiko, die verfassungsgebende Versammlung in Chile und andere Erfolge, die wir im Rahmen unserer feministischen Revolution erzielt haben.

Dies ist ein Aufruf, uns durch Lebensfreude und internationale Verbundenheit zu stärken. Wir müssen weiterhin die Straßen besetzen, die Bewegungen vorantreiben, die politischen Organisationen anführen und die Institutionen für uns beanspruchen.

Wir sind hier, um alles zu verändern.

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Erstunterzeichnerinnen:

Camila Miranda, Fundación Nodo XXI – Chile

Pierina Ferretti, Fundación Nodo XXI – Chile

Coordinadora feminista 8M – Chile

Luciana Peker, Autorin, Journalistin, feministische Aktivistin – Argentinien

Erica Malunguinho, Abgeordnete im Landtag von San Pablo PSOL, Mandata Quilombo – Brasilien

Aurea Carolina, Mitglied im Bundesparlament, PSOL – Brasilien

Institut Marielle Franco – Brasilien

Vilma Reis, Aktivistin in der Bewegung Schwarzer Frauen, PT – Brasilien

Janine Wissler, Mitglied des Bundestags und Bundesvorsitzende von DIE LINKE – Deutschland

Susanne Hennig-Wellsow, Mitglied des Bundestags und Bundesvorsitzende von DIE LINKE – Deutschland

AKAFEM Feministisch–munizipalistisches Netzwerk – Spanischer Staat

Nieves Salobral Martin, Mitglied von AKAFEM – Spanischer Staat

Rocío Fraga Sáenz, feministische Aktivistin, ehemalige Stadträtin in A Coruña für Marea Atlántica und Mitglied von AKAFEM – Spanischer Staat

Eva Abril, Sprecherin für Feminismus von Barcelona En Comú – Katalonien

Oihana Etxebarrieta Legrand, Abgeordnete von EH Bildu im Autonomen Parlament Gasteiz – Baskenland

Patri Perales Hurtado, Abgeordnete von EH Bildu im Autonomen Parlament von Pamplona – Baskenland

Monika Plazaola, Leiterin des Bereichs Feminismus und LGBTI von EH Bildu – Baskenland

Aiora Epelde Agirre, Sprecherin für feministische Politik für die Partei SORTU – Baskenland

Idoia Zengotitabengoa Laka, Gesamtkoordinatorin Fundación Iratzar – Baskenland

Elena Beloki Resa, Leiterin der internationalen Abteilung Fundación Iratzar – Baskenland

Melanie Wery-Sims, Parteivorstand DIE LINKE – Deutschland

Julia Schramm, Parteivorstand DIE LINKE – Deutschland

Friederike Benda, Parteivorstand DIE LINKE – Deutschland

Bettina Gutperl, Parteivorstand DIE LINKE – Deutschland

Nina Eumann, Landesvorsitzende DIE LINKE.Nordrhein-Westfalen – Deutschland

Cornelia Möhring, Mitglied des Bundestags DIE LINKE – Germany

Gökay Akbulut, Mitglied des Bundestags DIE LINKE – Germany

Heidi Reichinneck, Mitglied des Bundestags and Sprecherin für feministische Politik der Fraktion DIE LINKE – Germany

Elif Eralp, Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin, links*kanax – migrantisches Netzwerk in DIE LINKE – Deutschland