Europa ist in keiner guten Verfassung
Von Axel Troost, finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE und stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE.
Unstrittig ist: mit dem Rückzug von Gregor Gysi als Faktionsvorsitzender geht eine Entwicklungsetappe zu Ende. Insgesamt waren diese Jahre trotz ernsthafter Krisen eine Erfolgsgeschichte der LINKEN in der Bundesrepublik. Aus meiner Sicht lag Gregor Gysis zentraler Beitrag in der Gewährleistung der Multifraktionalität und Pluralität der LINKEN. Ich teile seine These: „Die Linken sind immer ideologischer als andere. Und deshalb ist immer die Sorge so groß, dass man gleich ein ganzes Prinzip verrät oder über Bord gehen lässt, wenn man irgendeinen Kompromiss macht oder auch nur einen Schlenker zulässt. Das ist aber meines Erachtens falsch.“ Und logischerweise ist daher sein Rat an die Nachfolger. „Ein paar Dinge müssen wir noch schaffen. Wir haben auch Probleme durch die Vereinigung, weil sich die Linken im Westen anders entwickelt haben als die im Osten. Das ist nicht ganz leicht, aber da habe ich, glaube ich, in den letzten Jahren schon eine wichtige Rolle gespielt, um einen Ausgleich zu erreichen und gegenseitiges Verständnis. Aber es ist mir nicht alles gelungen in der Partei.“
Auf der Führungsebene in Fraktion und Partei muss auch künftig ein Ausgleich erfolgen, denn das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Pluralität und ideologische Vielfalt in der bundesdeutschen LINKEN wirksam entfalten kann. Die vorhandenen unterschiedlichen Strömungen und Positionen können und müssen austariert werden. Sicherung und Weiterentwicklung der Pluralität heißt nicht Beliebigkeit. Unter dem Eindruck des neoliberalen Diktats der Austeritätspolitik für die Länder der südlichen Peripherie (vor allem Griechenland) und dem alle anderen gesellschaftlichen Konfliktzonen überlagernden Problem der Bewältigung und Steuerung der großen Bewegung der Schutzsuchenden nach Europa und die zentralen Aufnahmeländer gilt bei aller Breite der Debatte um die nächsten Schritte und Lösungen: Wir brauchen die europäische Integration, kein Zurück zum alten Nationalstaat. Aus dem Kapitalismus kann man nicht austreten, wir müssen die Gesellschaften reformieren.
Nach der Griechenlandkrise, die noch längst nicht gebannt ist, zeigen die jüngsten Ereignisse in der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegung auf der sogenannten Balkan-Route wie unzureichend die Staaten der EU auf diese Entwicklung vorbereitet waren und sind. Die aktuelle und sich verstärkende Flüchtlingssituation hat den Krisenmodus der EU weiter verstärkt und innerhalb weniger Wochen die Währungs- und Wirtschaftskrise in den Hintergrund gedrängt. Vor dem Hintergrund der großen Probleme, die bei der in so kurzer Zeit zu organisierenden Aufnahme einer großen Zahl von Zufluchtsuchenden auftreten und der faktischen Handlungsunfähigkeit der Europäische Union in Sachen Verteilung der Schutzsuchenden und einheitlicher Standards, gibt es jetzt auch in Deutschland eine Debatte über „Grenzen der Belastbarkeit“.
Nach dem jüngsten „ARD-Deutschlandtrend“ von Anfang Oktober erklärt eine Mehrheit von 51 Prozent der Deutschen, dass es ihnen Angst macht, dass so viele Flüchtlinge zu uns kommen – das sind 13 Prozentpunkte mehr als im September. 47 Prozent hingegen sagen, dass ihnen das keine Angst macht. Damit haben sich innerhalb eines Monats die Verhältnisse umgekehrt. Auch die Skepsis gegenüber Zuwanderung hat zugenommen: 35 Prozent der Befragten sagen, dass Zuwanderung allgemein mehr Vorteile bringt – das sind zehn Punkte weniger als im Vormonat. 44 Prozent hingegen sehen bei der Zuwanderung eher Nachteile – elf Punkte mehr als noch im September.
Die Flüchtlingsfrage wird Europa „sehr, sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage (nach) Griechenland und die Stabilität des Euro“, stellte Bundeskanzlerin Merkel zurecht fest. Das „Asylthema könnte das große nächste europäische Projekt sein, wo wir zeigen, ob wir wirklich in der Lage sind, gemeinsam zu handeln.“ Die Bundeskanzlerin Angela Merkel gerät mit dieser Haltung vor allem in den eigenen Reihen mehr und mehr unter Druck. Mit ihrer Entscheidung zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, hat sie ein deutliches Zeichen im Umgang mit der großen Flüchtlingsbewegung Richtung Europa gesetzt – ein Zeichen auch in Richtung jener politischen Kräfte, die in vielen europäischen Ländern versuchen, die Flüchtlingskrise zu nutzen, um die Kräfteverhältnisse in Sinne einer nationalistischen und fremdenfeindlichen politischen Agenda zu verschieben.
Bayerns Ministerpräsident Seehofer kritisierte die Entscheidung Merkels als einen „Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird“. Es sei „drängende Pflicht eines Politikers“, auf Deutschlands „begrenzte Aufnahmemöglichkeit hinzuweisen“. „Einladungen an alle Flüchtlinge dieser Welt, nach Deutschland zu kommen, können unser Land und unsere Gesellschaft überfordern“, heißt es in einem Positionspapier des konservativen Kreises in Berlin. „Es ist objektiv nicht leistbar, allen Flüchtlingen dieser Welt Asyl in Deutschland zu gewähren.“ Diese Bewertung vom Erreichen der Belastungsgrenze gewinnt auch bei der Sozialdemokratie und den Grünen an Rückhalt. Erschütternd ist, wie der Vorsitzende der SPD und Vizekanzler Gabriel sich dem nach rechts driftenden Mainstream unterwirft und auf den Kurs der CSU einschwenkt. „Wir nähern uns in Deutschland mit rasanter Geschwindigkeit den Grenzen unserer Möglichkeiten.“
„Wir müssen Flüchtlinge anständig behandeln und Fluchtursachen wie Krieg, Rüstungsexporte, Hunger, Armut und Rassismus bekämpfen. Aber wir dürfen die Benachteiligten bei uns nicht vernachlässigen“, forderte Gregor Gysi in seiner Abschiedsrede als Fraktionsvorsitzender. Ich plädiere dafür, diesen Punkt in das Zentrum der politischen Arbeit zu rücken, unsere Position zu konkretisieren und offensiv in die öffentliche Debatte einzubringen.
Weltweit sind derzeit über 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die allermeisten flüchten aus Angst vor Gewalt. Unter den weltweit zehn wichtigsten Herkunftsländern (unter anderem Syrien, Afghanistan, Somalia) ist kein einziges, in dem auch nur annähernd so etwas wie Frieden herrscht. Zugleich mussten die UN-Organisationen (UNHCR und Welthungerhilfe) ihre Unterstützungen für die Lager in der Nähe der Konfliktzonen zurückfahren, weil die Finanzmittel zu gering sind. Aktuell fehlen ca. neun Mrd. US-Dollar, um das Versorgungsniveau der letzten Jahre aufrecht zu erhalten.
Solange allerdings die Kriegssituation in Syrien und der Verfall staatlicher Strukturen etwa auch in vielen afrikanischen Ländern anhält, wird der Strom der Zufluchtsuchenden durch solche Maßnahmen vielleicht etwas eingedämmt, aber keineswegs unterbunden.
Die LINKE sollte sich stark machen für eine massive Aufstockung der UN-Hilfsprogramme für Flüchtlinge, denn diese leiden an chronischer Unterfinanzierung. Diese hat sich dramatisch in Kürzungen der Lebensmittelrationen niedergeschlagen und Flüchtlinge, die Rationen bekommen, müssen von zwischen 45 und 50 US-Cent am Tage leben. Viele Flüchtlinge in Jordanien haben der UNHCR berichtet, dass diese Kürzungen der letzte Anstoß waren, das Land zu verlassen.
Die Bundesregierung kommt mit den Beschlüssen des „Flüchtlingsgipfels“ den Forderungen von Ländern und Kommunen nach finanzieller Entlastung bei der Versorgung von Flüchtlingen unzureichend entgegen. Die Bundeskanzlerin, der Finanzminister Wolfgang Schäuble und die Ministerpräsidenten haben sich auf ein Maßnahmenpaket verständigt, mit dem der Bund Teile der Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Kriegsflüchtlinge und AsylbewerberInnen übernimmt.
Bodo Ramelow hat völlig zurecht erklärt: Die Finanzzusagen seien „ein Schritt in die richtige Richtung“, aber nicht ausreichend. Er werde, die pauschale Einstufung der Westbalkan-Länder als „sichere Herkunftsstaaten“ ablehnen. „Den Gesetzesvorhaben, die nur auf Abschreckung ausgerichtet sind und Ressourcen für sinnlose Bürokratie binden, konnte ich nicht zustimmen.“
Die LINKE lehnt all jene Versuche ab, angesichts der täglich in Europa eintreffenden Flüchtlinge aus dem syrischen Kriegsgebiet auf militärische Optionen zu setzen. Zu Recht betont der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier: „Der Weg zu einem Ende der Gewalt führt einzig über Verhandlungen für eine politische Lösung, auch wenn das Gespräche mit dem Assad-Regime notwendig macht.“
Die offenkundigen Schwierigkeiten oder politischen Hürden mit dem stark angestiegenen Strom von Schutzsuchenden hat aufgedeckt: Europa ist in keiner guten Verfassung. Die Aktionen gegen die Flüchtlinge vor allem in Ungarn, Dänemark und Großbritannien haben das Dublin-Abkommen als wenig praktiziertes staatliches Regulierungsinstrument sichtbar werden lassen. Eine dezentrale Erfassung der Schutzsuchenden und ihre Verteilung auf die verschiedenen Mitgliedsländer werden zu einer kaum realisierbaren politischen Kraftanstrengung.
Ob die EU zu der erforderlichen Solidarität in der Lage ist, ist offen. Zwar wurde die Flüchtlingsfrage von der EU-Kommission inzwischen als eine gesamteuropäische Aufgabe anerkannt. Doch lange konnten sich die EU-Innenminister bloß auf eine Umverteilung von 40.000 Flüchtlingen einigen. Für weitere 120.000 beschlossen die Innenminister am 22. September einen neuen Verteilungsschlüssel – allerdings stimmten Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien gegen die Einigung.
In dem nun aufsteigenden Diskurs über die Wiedergewinnung von nationaler Grenzsouveränität setzt DIE LINKE bei der Lösung auf mehr Europa, nicht auf weniger.