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Bernd Riexinger

Es geht nicht um den Euro, sondern um die Europäer

Statement von Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Sahra Wagenknecht, stellvertretende Partei- und Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Heiner Flassbeck, ehemaliger Chefökonomen der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung UNCTAD, und Sabine Reiner, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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>Griechische Fassung (PDF-Datei, 160 kB)

Linke Ökonomen haben schon in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, welche Probleme es bereiten wird, eine einheitliche Währung ohne gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik herzustellen. Unter diesen Bedingungen war klar, dass der Euro die Starken stärker und die Schwachen schwächer macht. Ohne die Möglichkeit bei Wettbewerbsverlust die eigene Wirtschaft zumindest zeitweise durch Abwertung der eigenen Währung zu schützen, verbleibt nur noch die nackte Konkurrenz um die günstigsten Lohnstückkosten, oder wie Altvater formuliert, "die negative Integration Europas durch bloße Liberalisierung der Märkte und Deregulierung der Politik". Die Stabilitätskriterien von Maastricht drückten aus, dass sich die großen Geldbesitzer mit ihrem Interesse an der Geldwertstabilität gegenüber den sozialen Interessen der Menschen in Europa durchgesetzt hatten. Kein einziges soziales Kriterium (Mindestlöhne, Sozialstandards, usw.) fand Eingang in den Katalog der Bedingungen für die Gemeinschaftswährung.

Die ohnehin vorhandenen wirtschaftlichen Ungleichgewichte wurden und werden durch das deutsche "Exportmodell" verschärft. Gestützt auf optimale Weltmarktausrichtung in Kernbereichen der Industrie, hohe Produktivitätsstandards und die politisch durch die Agenda 2010 erzwungene Absenkung des Lohnniveaus erzielte und erzielt die deutsche Wirtschaft gigantische Exportüberschüsse, die die Leistungsbilanzdefizite der mediterranen Länder und deren Verschuldung erhöhen. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland lebt deutlich unter den Möglichkeiten dieses Landes und wird um die Resultate der eigenen Arbeitsleistung gebracht.

Merkel als Hassfigur der Krisenbetroffenen in Europa

Die Rettung der Banken und Investmentgesellschaften, die sich auf den internationalen Finanzmärkten verspekulierten, kostete alleine die Staaten der EU über eine Billion Euro und trieb die Staatsverschuldung deutlich in die Höhe. Die unter der Führung der Merkel-Regierung verordnete Austeritätspolitik führt zur weiteren Demontage des Sozialstaates. Geschichtlich gibt es kein Beispiel, dass es funktioniert, in die Krise hinein Sparpolitik zu verordnen. Die Folge dieser Politik wird unweigerlich die Krise verschärfen und die Massenarbeitslosigkeit mit allen sozialen Folgen in die Höhe treiben. Das ist ein wesentlicher Grund, warum Merkel immer mehr zur Hassfigur in den Krisenregionen von Europa wird.

Die Formation des finanzgetriebenen Kapitalismus nährt sich in hohem Maße aus den Resultaten der gewaltigen Umverteilung zugunsten der Geld- und Kapitalbesitzer in den letzten 20 Jahren. Ein neues Wachstums- und Akkumulationsmodell hat diese Formation nicht entwickeln können. Im Gegenteil, sie hat nicht nur die größte Finanzkrise nach 1929 hervorgebracht, sondern gewaltige Destruktionsprozesse in Gang gesetzt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinandergegangen, die Sozialsysteme wurden geopfert und teilweise oder ganz zerschlagen, die Massenarbeitslosigkeit wuchs, die Zahl der prekär Beschäftigten hat sich massiv ausgedehnt, ganze Volkswirtschaften werden in den Ruin getrieben. Die Mehrheit der politischen Eliten sieht keinen Ausweg aus der Unterordnung unter das Diktat der Finanzmärkte und ist bereit, sogar Elemente der bürgerlichen Demokratie zur Disposition zu stellen.

Ein weiteres ökonomisches Auseinanderdriften der Länder in der Eurozone höhlt die Basis des Euro aus. Im Namen der Eurorettung wird die Basis des Geldsystems Euro zerstört. Es ist schwer vorstellbar, dass die Legitimation gewählter Regierungen bei einer Massenarbeitslosigkeit von über 20 Prozent in Griechenland, Spanien und Portugal, von über 12 Prozent in der EU und einer Jugendarbeitslosigkeit in verschiedenen Ländern von 50 Prozent und mehr aufrechterhalten werden kann.

Der Preis für den deutschen Eurokurs ist zu hoch

Welche Perspektive haben diese Regierungen ihrer Bevölkerung anzubieten, bei negativem Wirtschaftswachstum, erodierenden Sozialsystemen, wachsender Armut und dem Ausverkauf öffentlichen Eigentums?

Kanzlerin Merkel spricht offen aus, was sie will: "Wie können wir sicherstellen, dass wir in den nächsten Jahren auch eine Kohärenz in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der gemeinsamen Währungsunion erreichen? Und damit meine ich nicht eine Kohärenz in der Wettbewerbsfähigkeit irgendwo im Mittelmaß der europäischen Länder, sondern eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich daran bemisst, ob sie uns Zugang zu globalen Märkten ermöglicht." Aber der Preis für diese Politik, die zum Ziel hat Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, ist für Millionen Menschen zu hoch. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie ihn länger bezahlen werden.

Die Reaktion der Bevölkerungen in Europa auf die Politik der rücksichtslosen Unterordnung unter die Kapitalverwertungsinteressen des weltmarktorientierten Kapitals kann reaktionäre oder progressive Richtungen annehmen. Es besteht durchaus die Gefahr, dass rechtspopulistische oder gar faschistische Kräfte Zuwachs bekommen und den Protest gegen diese Politik in gefährliches Fahrwasser lenken.

Dass dies nicht geschieht, wird in hohem Maße davon abhängen, ob es den linken Parteien und Organisation gelingt, eine überzeugende Alternative zu entwickeln und gesellschaftlich zu verankern. Diese muss geeignet sein, dem bereits vorhandenen Unmut und dem Widerstand gegen die Politik der Troika eine politische Orientierung und Perspektive zu geben. Aus vielen Gründen glaube ich nicht, dass die Forderung nach einem Währungsverbund mit politisch regulierter Auf- und Abwertung dafür eine Perspektive bietet, wie von Oskar Lafontaine vorgeschlagen. Im Falle eines Zerbrechens des Euro-Systems oder eines Austritts einzelner Länder wäre dies sicher die bessere Alternative gegenüber einem völlig unkontrollierten Prozess. Ich will kurz einige Gründe nennen, die dagegen sprechen:

  • Aus gutem Grund ist SYRIZA gegen einen Austritt Griechenlands aus dem Euro, denn eine Währungsabwertung würde zwar die Exporte billiger machen, aber eben auch die Importe teurer. Importiertes Erdöl und andere lebenswichtige Produkte - auch Lebensmittel - würden sofort teurer, fraglich ist, was Griechenland billiger exportieren kann. Eine eigene deutsche Währung müsste wahrscheinlich sofort um 30 oder mehr Prozent aufgewertet werden.
  • Kleine Währungen könnten sich gegen die Spekulation der internationalen Finanzmärkte kaum wehren. Elmar Altvater schreibt: "Die Vorstellung, dass kleine Währungen in der Geopolitik der Währungskonkurrenz mithalten und ihre ökonomischen Probleme lösen könnten, ist naiv." Soweit würde ich nicht gehen, aber die Lösung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte über die Währungsfrage greift zu kurz.
  • Die wirtschaftliche Verflechtung ist längst europäisch, auch international. Haben wir es hier auch nur annähernd noch mit homogenen nationalen Wirtschaftsräumen zu tun, die wieder in eine Europäische Währungsunion gefasst werden können?

Ein soziales Europa kann nur von unten entstehen

Entscheidend für die Durchsetzung linker Positionen ist, dass sie von fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräften aufgegriffen werden können. Eine Alternative zur Politik von Merkel und der Troika wird sich in Europa nur von unten entwickeln. Die Positionen der Linken müssen also an die Auseinandersetzungen, Kämpfe und sozialen Bewegungen in Europa andocken und von diesen aufgegriffen werden.

Zahlreiche Menschen in Europa gehen nicht für oder gegen den Euro auf die Straße, sondern gegen die Angriffe der Troika, gegen Lohn- und Rentenkürzungen, Massenarbeitslosigkeit, gegen die Verschleuderung öffentlichen Eigentums, gegen die Übermacht der Banken, ungerechte Vermögensverteilung, gegen die Zerschlagung der Tarifautonomie und den Abbau demokratischer Rechte oder auch für höhere Löhne und größere soziale Sicherheit. Wenn sich auch die deutschen Gewerkschaften an der Beteiligung von europaweiten Protesten nach wie vor schwertun, so gibt und gab es auch länderübergreifende koordinierte Generalstreiks und Protestaktionen, zum Beispiel im November in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien.

In diesen und anderen Auseinandersetzungen bilden sich, optimistisch gesehen, neue Kräfteverhältnisse heraus, die die Linke mit beeinflussen kann und in denen sie eine politische Orientierung für eine progressive Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa aufbauen kann. Der ehemalige Präsident der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM-CGIL, Giorgio Cremaschi bringt es gut auf den Punkt: "Man sollte nicht bei der Währung anfangen, sondern bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik und den Institutionen, auf die sie sich stützt. Was demontiert werden muss, ist das Europa der neoliberalen Verträge und Auflagen. (…) Die Entwertung der Arbeit zum Zwecke der Exportförderung, die der gemeinsamen Währung zugrunde liegt, muss aufhören. Ebenso muss die Austeritätspolitik umgekehrt werden, und dazu ist eine demokratische Konsultation der Bevölkerung nötig. Europäische Verträge und Auflagen sind Referenten zu unterziehen. Die Frage der Währung stellt sich erst danach, wenn die neoliberale Politik gekippt ist."

Die Antworten der Partei DIE LINKE gehen in die gleiche Richtung:

  • In Deutschland müssen die Löhne steigen und durch ein Zukunftsprogramm der Binnenmarkt gestärkt werden. Die hohen Exportüberschüsse müssen abgebaut werden.
  • Statt der Austeritätspolitik brauchen wir ein europäisches Investitionsprogramm für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, der öffentlichen Daseinsvorsorge und für den sozialökologischen Umbau.
  • Regulierung der Finanzmärkte, Schließung der Steueroasen, Verbot riskanter Spekulationsgeschäfte, Verkleinerung und Vergesellschaftung der Banken und Umbau des Bankensystems.
  • Europäische Vermögensabgabe für Millionäre, Milliardäre, reiche Kapitalbesitzer, anstatt Beschäftigte, Rentner und Erwerbslose die Schulden bezahlen zu lassen. Für diese Forderung und für eine Kampagne der europäischen Linksparteien hat sich die Partei DIE LINKE starkgemacht, damit die Auseinandersetzung in Europa um die Bezahlung der Schulden nicht zu einem Konflikt zwischen den europäischen Bevölkerungen nationalpopulistisch gewendet werden kann, sondern in einem Konflikt zwischen "Oben" und "Unten" ausgetragen wird.
  • Die öffentliche Kreditaufnahme muss von der Diktatur der Finanzmärkte befreit werden. Direktfinanzierung durch eine zu gründende öffentliche europäische Bank.
  • Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die durch Lohn- und Sozialdumping verschärft werden müssen überwunden werden. Dazu gehört auch eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die die Deindustrialisierungsprozesse und den wirtschaftlichen Kahlschlag ganzer Regionen und Länder in Europa beendet und eine gegenteilige Entwicklung einleitet.
  • Wir wenden uns gegen den Abbau der Demokratie gewählter nationaler Parlamente und fordern den Ausbau der Rechte des europäischen Parlaments und verstärkte basisdemokratische Elemente.

"Dazu müssen in Zukunft die Wirtschafts-, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken der Euro-Mitgliedsländer enger abgestimmt und der heute vorherrschende Wettbewerb durch Steuer- Sozial- und Lohndumping unterbunden werden" (Auszug aus dem Entwurf des Wahlprogramms).

Es gibt keine Abkürzung auf unserem Weg

Die LINKE hat inhaltliche Positionen entwickelt, die an die tatsächlichen Auseinandersetzungen gegen die neoliberale Hegemonie anknüpfen und zumindest Bausteine für die Entstehung eines sozialen, demokratischen, solidarischen, friedlichen und ökologischen Europas formen können. Eine Abkürzung zu den dafür erforderlichen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, der Verbreiterung sozialer Kämpfe und der Herausbildung europäischer und internationaler Solidarität gibt es nicht.

Die diskutierte Frage, ob dafür eher der nationale oder der europäische Schauplatz gewählt werden soll, ist falsch gestellt. Natürlich muss auf nationaler Ebene für soziale Forderungen und demokratische Rechte mit aller Entschlossenheit gekämpft werden, aber es kann doch keinen Zweifel geben, dass das Kapital und die Konzerne längst europäisch und international verflochten und vernetzt sind und diese ökonomische Macht auch politisch zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen. Das ist doch gerade die materielle Basis der neoliberalen Hegemonie in Europa. Die Beschäftigten internationaler Konzerne machen in immer kürzeren Abständen die Erfahrung, wie ihre Standorte gegeneinander ausgespielt werden, und wie ohnmächtig sie sind, wenn sie nicht in der Lage sind, grenzübergreifende Solidarität herzustellen.

Deshalb führt an der Zusammenarbeit, Koordination und Verständigung der Gewerkschaften, Linksparteien und Gruppen der sozialen Bewegungen kein Weg vorbei. Unser Programm und unsere Politik müssen dazu beitragen diesen Prozess zu befördern. Um mit Elmar Altvater zu schließen: "Die Bändigung des entfesselten Kapitalismus (oder seine Überwindung, B.R.), die Regulierung von Finanzmärkten, sozial gesicherte Arbeitsplätze und die Wende zu erneuerbaren Energien sind Millenniumsaufgaben; in jedem Falle lassen sich diese besser in einem vereinten Europa bewältigen, als in einem durch den Spaltpilz der Finanzkrise und die Nullsummenspiele der Abwertungsraserei getrennten und vermutlich zerrütteten Europa."