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Erwartungen der Partei an die Bundestagsfraktion

Rede von Gesine Lötzsch, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, auf der Herbstklausur der Bundestagsfraktion in Bad Saarow

In meine Abgeordnetensprechstunden kommen immer wieder Menschen, die mir ihr Schicksal und ihre Probleme ausführlich erzählen. Nach 10 bis 15 Minuten frage ich sie, was sie von mir erwarten. Manche wollen mir nur ihre Lebensgeschichte erzählen, andere denken über die Frage nach und merken, dass es ihnen schwer fällt, ihre Erwartungen zu formulieren. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen von mir etwas erwarten, ohne es mir zu sagen. Ich bitte euch, dass ihr eure Erwartungen an mich oder den Parteivorstand offen formuliert und ich euch dann sagen kann, welche Erwartungen die Partei oder der Vorstand oder nur ich erfüllen können und welche nicht.

Wir sollten die Klausur nutzen, um über gegenseitige Erwartungen zu sprechen, aber auch über die Erwartungen, die wir gegenüber anderen Parteien und Organisationen haben. Ich möchte meine Sicht, meine Erwartungen als Parteivorsitzende an die Fraktion heute formulieren. Da ich Mitglied dieser Fraktion bin, richte ich diese Erwartungen auch an mich selbst.

Die Partei und unsere Wählerinnen und Wähler haben unglaublich hohe Erwartungen an unsere Bundestagsfraktion. Tausende Menschen engagieren sich in Wahlkämpfen, verteilen Flugblätter, Zeitungen und müssen sich an Info-Ständen der LINKEN von wildfremden Menschen beschimpfen lassen. Dann kommt der Wahlsieg, dann die Wahlparty, und dann erwarten unsere fünf Millionen Wählerinnen und Wähler, dass mit einer starken linken Fraktion im Bundestag sich ihre persönliche Situation verbessert, und zwar möglichst sofort. Jeder von uns weiß, dass diese Erwartungen nur selten erfüllt werden können. Wenn wir Wahlziele umsetzen, dann passiert das meistens vermittelt über eine Regierung. Dass unsere Existenz, unsere Stärke, unser Druck erst Mindestlöhne, längeres ALG I und gleiches ALG II in Ost und West möglich gemacht haben, wird nur sehr vermittelt wahrgenommen. Richtig deutlich wird die unglaubliche Bedeutung einer linken Partei erst dann, wenn sie zu schwach ist, um gesellschaftlichen Druck aufzubauen.

Die Hartz-Gesetze waren überhaupt nur möglich, weil die PDS-Fraktion 2002 aus dem Bundestag flog. Es war damals ein schwerer strategischer Fehler, den Schwerpunkt des Wahlkampfes auf die Verhinderung von Stoiber zu setzen und nicht die eigene Unersetzbarkeit zu betonen. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Das linke Korrektiv wurde nicht mehr öffentlich wahrgenommen, und SPD und Grüne glitten komplett in den Neoliberalismus ab.

Dass es eine starke linke Fraktion im Bundestag gibt, ist Ergebnis sehr harter Arbeit von vielen Genossinnen und Genossen, und wir haben es in der Hand, ob diese Arbeit Früchte trägt oder zerstört wird. Die Existenz der Fraktion ist keine Selbstverständlichkeit. Wir haben es bereits erlebt, und viele befreundete Parteien in Europa haben es erlebt, dass eine Fraktion von einem Tag auf den anderen aus dem Parlament fliegen kann.

Bevor ich etwas zu den Erwartungen an unsere Fraktion sage, möchte ich etwas zum Verhältnis zur SPD und zu den Grünen sagen. Ich sehe DIE LINKE als "Bewährungshelfer" für SPD und Grüne, als Korrektiv. Es besteht immer noch die Gefahr, dass die beiden Parteien wieder rückfällig werden und alle Parteibeschlüsse, die sie in der Opposition gegen die Agenda 2010 gefasst haben, in der Regierung wieder aufheben. Das muss die LINKE verhindern!

Wenn wir uns als "Bewährungshelfer" verstehen, dann definieren wir ein sehr selbstbewusstes Verhältnis zu SPD und Grünen. Wir wollen treibende Kraft sein, wir wollen steuern, wir wollen Einfluss nehmen, wir machen Vorschläge, wir weisen auf drohende Rückfälle hin. Ich habe in einem Tagesspiegelbeitrag versprochen, dass ich die SPD nie beschimpfen werde. Es wäre auch nur ein Ausdruck von eigener Schwäche. Ich werde Schritte von SPD und Grünen, die in unsere Richtung gehen, loben und Schritte, die sie in Richtung CDU/CSU und FDP gehen, kritisieren.

Es wird von einigen Journalisten der Eindruck vermittelt, dass DIE LINKE immer nur Kurskorrekturen gegenüber SPD und Grünen verlangt, sich aber in keiner Weise selbst bewegt. Dieser Eindruck ist falsch und sollte nicht von uns selbst noch verstärkt werden. Schaut man sich die letzten Landtagswahlen an, dann muss man feststellen, dass in Thüringen, in Hessen, im Saarland und in NRW linke Koalitionen an uns nicht gescheitert sind. Auch auf Bundesebene haben wir immer Kooperationsangebote gemacht.

Mit Sigmar Gabriel hatte ich besprochen, dass wir uns in Sachen Bundespräsidentenwahl beraten sollten. Doch Gabriel präsentierte seinen Kandidaten erst der Presse und dann uns. Wir haben darauf sehr selbstbewusst reagiert, und SPD und Grüne wissen jetzt, dass sie so nicht mit uns umgehen können. Bemerkenswert war für mich auch, dass die SPD am Wahltag des Bundespräsidenten selbstverständlich bereit war, mit Oskar Lafontaine zu sprechen. Bis zu dem Tag hieß es ja immer, Oskar Lafontaine sei das größte Hindernis für eine Zusammenarbeit. Doch dieses Beispiel zeigt, dass SPD und Grüne, wenn sie auf uns angewiesen sind, eine unglaubliche Kooperationsbereitschaft an den Tag legen und alle Unvereinbarkeitsschwüre brechen.

Der Umkehrschluss muss uns aber auch bewusst sein: Wenn SPD und Grüne nicht auf uns angewiesen sind, werden sie uns immer links liegen lassen. Das ist auch aus ihrer Sicht strategisch zwingend. Sie wollen zusammen die Bundesregierung ablösen und setzen alles daran, dass ihnen das ohne DIE LINKE gelingt. Deshalb halte ich es auch nicht für sinnvoll, SPD und Grüne mit Angeboten zu überhäufen, wenn wir wissen, dass sie auf unsere Angebote nicht angewiesen sind.

Unsere Wählerinnen und Wähler verlangen von uns mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit den konkurrierenden Parteien, und zwar mit allen. Sicherlich wäre eine gemeinsamer Antrag von LINKE, SPD und Grüne im Bundestag eine schöne Sache. Doch wir sollten die Außenwirkung eines solchen Antrages auch nicht überschätzen. Die Menschen wollen Ergebnisse sehen! Ein gemeinsamer Antrag ist für 90% unserer Wählerinnen und Wähler ein Zwischenschritt, aber kein Ergebnis, das Einfluss auf ihre konkrete Lebenssituation hat. Dafür sollten wir unsere Lebensenergie nicht verschwenden.

Unsere erste Aufgabe als Oppositionsfraktion ist es, uns mit dieser Regierung auseinanderzusetzen. Unsere politischen Gegner sind die Parteien von Merkel und Westerwelle. Wir brauchen Vorschläge, die so bestechend sind, dass die anderen Parteien sie nicht ablehnen können. Formulierungen wie "Man kann ja von den LINKEN halten, was man will, doch in der Frage haben sie einfach mal Recht!" muss man in Zukunft öfter hören.

Wo sind unsere Vorschläge, die so bestechend sind, dass sie zur materiellen Gewalt werden und die Massen ergreifen? Es wäre schön, wenn die Fraktion ihre eigene Arbeit analysiert und schaut, welche unserer Vorschläge die Bürgerinnen und Bürger wirklich erreicht hat und warum. Warum erreichen viele gute Vorschläge nicht unsere Wählerinnen und Wähler, nicht einmal die Genossinnen und Genossen? Wir müssen sogar feststellen, dass unsere Wählerinnen und Wähler, sogar Genossinnen und Genossen Positionen von anderen Parteien vertreten und offensichtlich unsere Auffassung nicht kennen oder aber sie für falsch halten.

Welche Schlüsse ziehen wir daraus für unsere Arbeit in der Fraktion? Die Fraktion muss sich überlegen, wie sie noch besser mit ihren eigenen Initiativen und Publikationen unsere eigene Klientel erreicht. Eine Pressemitteilung, eine Anfrage, ein Antrag ist noch kein Ergebnis, das das Leben der Menschen verändert. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, die Politik der Bundesregierung zu begleiten, sondern sie zu ändern!

Im Beschluss des Parteivorstandes sind die Schwerpunkte für den Herbst benannt. Wir müssen immer wieder unsere eigene Arbeit überprüfen, indem wir mit den Bürgerinnen und Bürgern sprechen, um zu erfahren, was von unseren Vorschlägen ankommt. Erreichen wir auf unseren Konferenzen vorwiegend Experten, oder erreichen wir wirklich unsere Wählerinnen und Wähler? Bei unserer Hamburger Energiekonferenz hatte ich den Eindruck, dass ein sehr breites Spektrum angesprochen wurde. Das Interesse war groß. Es war eine gelungene Konferenz! Trotzdem dürfen wir die Wirkungen von Konferenzen und Broschüren nicht überschätzen.

Unsere Freude der SP in den Niederlanden haben ihre Wahlniederlage ausgewertet und sind u.a. zu dem Schluss gekommen, dass sie zu viel Papier beschrieben haben und zu wenig auf der Straße bei den Menschen waren. Außerdem war noch vielen in Erinnerung, wie die SP die letzten Koalitionsgespräche abgebrochen hat. Die Menschen haben gefragt: Warum sollen wir euch stark machen, wenn ihr nicht regieren wollt? Ich weiß, dass viele Abgeordnete und Mitarbeiter unserer Fraktion unermüdlich vor Ort mit vielen Menschen im Gespräch sind. Wir sollten uns gemeinsam Zeit nehmen, um über unsere ganz praktischen Erfahrungen mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort ins Gespräch zu kommen.

Es ist normal, dass ich als Parteivorsitzende viele Mails und Briefe bekomme, in denen parteiinterne Probleme beschrieben und Lösungen verlangt werden. Doch ich habe die Erwartung, dass ich auch erfahre, wenn etwas gut gelaufen ist. Ich möchte gern als Parteivorsitzende gute Erfahrungen weitertragen, damit das Rad nicht von jedem Kreisverband neu erfunden werden muss. Wenn ich mit Genossinnen und Genossen telefoniere, dann diskutieren wir sofort die aktuellen Probleme in der Partei. Wenn ich dann frage, was läuft bei dir wirklich gut, dann muss ich immer noch einmal fragen, ob der Genosse noch am Apparat ist. Warum haben so viele Genossinnen und Genossen keine guten Beispiele aus der politischen Arbeit sofort präsent?

Die Bundestagsfraktion ist eine einzigartige Struktur in unserer Partei. Sie ist größer als alle anderen Fraktionen, sie hat mehr Abgeordnete, mehr Mitarbeiter und mehr Geld als jede andere Fraktion. Im Vergleich zu Parteistrukturen ist die Bundestagsfraktion nicht nur ein Schwergewicht, sondern ein Superschwergewicht, sie wird aber die Partei nie ersetzen. Das ist auch der Grund, warum Klaus und ich es für sehr wichtig halten, weiter im Fraktionsvorstand zu arbeiten.

Der Macht und Stärke ist sich die Fraktion bewusst. Meine erste Erwartung an die Fraktion ist, diese Macht vorsichtig und sehr zurückhaltend gegenüber den Genossinnen und Genossen einzusetzen, die ehrenamtlich für die Partei tätig sind. Die Partei wird in ihrem Handeln gelähmt, wenn der Eindruck entsteht, dass die Bundestagsfraktion alle Probleme lösen könnte. Das kann sie nicht!

Wir brauchen Genossinnen und Genossen, die uns verstehen, die das Gefühl haben, dass ihre Meinung und ihre Ideen auch gefragt sind. Es wäre eine schlechte Arbeitsteilung, wenn die Fraktion die Strategie vorgäbe und die Parteifunktionäre nur noch die Aufgabe hätten, diese Strategie den Genossinnen und Genossen zu erklären. Nein, wir müssen wieder eine Mitmach-Partei sein!

Anfang der 90er Jahre resultierte die Stärke der PDS gerade aus der Arbeit vieler Genossinnen und Genossen bei der Mieter- und Rentenberatung sowie in vielen anderen sogenannten Vorfeldorganisationen. Mich würde interessieren, in welchen Vereinen und Organisationen Abgeordnete und Mitarbeiter unserer Fraktion sind, was sie dort machen und wie die dort organisierten Menschen unsere Partei sehen und bewerten. Die Fraktion muss Ideen aus der Partei und der gesamten Gesellschaft stärker aufgreifen und zu ihren eigenen Ideen machen.

Ich werde in diesem Monat zu meiner ersten Sprechstunde als Parteivorsitzende einladen. Ich will wissen, was die Genossinnen und Genossen an der Basis bewegt, welche Probleme und welche Ideen sie haben. Wir dürfen uns nicht nur auf die Umfrageinstitute verlassen, die 1 000 Menschen befragen. Wir können fast 80 000 Mitglieder unserer Partei befragen und bekommen sicher sehr aufschlussreiche Antworten.

Doch es geht nicht nur um Ideen, sondern auch um Konflikte innerhalb der Partei. Schauen wir uns die gegenwärtigen Konflikte in einzelnen Landesverbänden an, dann müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, welche Rolle Mitglieder der Fraktion in diesen Konflikten spielen. Sind sie sich immer ihrer eigenen Macht bewusst, und wie setzen sie diese Macht ein? Treten sie als Friedensstifter auf, oder spitzen sie die Konflikte zu?

In letzter Zeit höre ich häufig, dass wir unsere politischen Themen überprüfen müssen. Das ist richtig, doch wir müssen auch unsere Verhaltensweisen überprüfen. Unsere Glaubwürdigkeit wird im Augenblick durch das Verhalten weniger Genossen untergraben und nicht durch falsche oder verblassende politische Themen.

In einer Befragung wurden Frauen gefragt, was sie davon abhält, sich politisch in der LINKEN zu engagieren. Nach den obligatorischen Zeitproblemen wurden gleich als zweiter Hinderungsgrund die unangenehmen Umgangsformen in unserer Partei benannt. Wir sollten gemeinsam nachdenken, wie wir in Zukunft miteinander umgehen und welche Regeln wir gemeinsam beachten wollen. Wenn sich die Umgangsformen nicht ändern, dann werden die Medien bis zu den Wahlen darüber berichten und nicht über unsere politischen Forderungen. Doch es geht gar nicht in erster Linie um die Medien, es geht um eine solidarische Kultur, die wir leben sollten und die so attraktiv sein muss, dass die Menschen schon wegen unserer gelebten Kultur in die Partei eintreten.

Es geht natürlich nicht nur um Umgangsformen, es geht auch um heftige Diskussionen um politische Inhalte. Ich bin nicht gegen heftige Diskussionen, doch ich habe die Erwartungen an Abgeordnete, dass sie einschätzen können, ob diese Diskussionen von unseren Wählerinnen und Wählern, von unseren Genossinnen und Genossen nachvollzogen werden können. Wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass wir genau die Dinge diskutieren, die sie auch umtreiben, dann führen wir die richtigen Diskussionen. Wir müssen in der Fraktion aber auch die Fähigkeit entwickeln, Diskussionen, wenn sie unproduktiv werden, zu unterbrechen und ein Streit-Moratorium zu beschließen, damit sich die Gemüter auch wieder beruhigen können.

Ich bin der Auffassung, dass unsere Fraktion ein großer Schatz für die Partei ist, dass wir über Potenziale verfügen, die wir noch nicht einmal kennen, geschweige denn nutzen. Wir müssen diese Potenziale heben und zur Entfaltung bringen mit dem Ziel, diese Bundesregierung aus dem Amt zu fegen. Das ist unsere Aufgabe. Dafür wurden wir von fünf Millionen Menschen gewählt!