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Ilja Seifert

Einladung zum Perspektiven-Tausch

Statement von Ilja Seifert, Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN, auf der Pressekonferenz am 1. Dezember 2014 im Berliner Karl-Liebknecht-Haus

Guten Tag, es freut mich, dass ich Ihnen aus Anlass des 3. Dezembers, dem Welttag der Menschen mit Behinderungen, und am heutigen Weltaidstag kurz darlegen darf, warum wir die UNO-Behindertenrechtskonvention als Maßstab für die Umsetzung von Menschenrechtspolitik aus der Perspektive von behinderten Menschen umsetzen wollen. Diese nämlich sagt: Es ist nicht schlimm behindert zu sein, schlimm ist es, behindert zu werden.

Und die Staaten, die sich dieser Konvention anschließen, verpflichten sich, den Menschen mit Behinderungen volle und wirkungsvolle Teilhabe zu ermöglichen. Also: nicht die behinderten Menschen müssen sich der Umwelt anpassen, sondern die Umwelt muss so gestaltet werden, und die Verhältnisse müssen so gestaltet werden, dass sich Menschen mit Behinderungen trotz ihrer Einschränkungen – zum Beispiel, wenn sie nicht hören können, - gut als Teil der Gesellschaft entfalten können.

Ich muss hier nichts von dem wiederholen, was wir schon seit Jahren sagen, nämlich: Es geht darum, sowohl personelle Assistenz zu organisieren, und zwar so, dass sie nicht arm macht, als auch, die kollektiven Barrieren zu beseitigen, nämlich bauliche Barrieren, kommunikative Barrieren und kognitive Barrieren – auch die Barrieren in den Köpfen.

Und um ihnen zu sagen, was wir eigentlich meinen, erlaube ich mir mal einen Perspektivenwechsel. Viele denken, Behindertenwerkstätten sind was ganz tolles. Da werden Menschen mit Behinderungen einbezogen in die allgemeine Teilhabe am öffentlichen Leben. Aber, wenn das so wäre, müssten eigentlich alle Leute gern in so eine Werkstatt gehen wollen oder in eine Sonderschule, in ein Sonderwohnheim. Aber wissen sie wie absurd die rechtliche und auch die tatsächliche Situation in solchen Werkstätten ist? Das geht schon einmal los bei der Zugangsberechtigung. Um in einer Werkstatt arbeiten zu dürfen, muss man erst einmal von ärztlicher Seite aus voll erwerbsmindernd eingestuft werden. Das heißt, dass ein Arzt amtlich feststellen muss, dass man nicht mehr als 3 Stunden – genau genommen: 2 Stunden, 59 Minuten arbeiten kann. Wenn man diese Bescheinigung hat, kann man in der Werkstatt 8 Stunden arbeiten. Wenn man dann in der Werkstatt ist, dann hat man keinen Arbeitsvertrag sondern einen Werkstattvertrag. Man ist auch kein Arbeitnehmer, sondern ein Arbeitnehmerähnliches Wesen. Wer möchte denn ein Schülerähnliches Wesen in der Sonderschule sein? Oder ein Menschenähnliches Wesen in einem Pflegeheim? Also, ich glaube, das ist ziemlich absurd.

Dann kommt es dazu: Was kann man denn in so einer Werkstatt verdienen? Der Stundenlohn liegt unter einem Euro, wenn man überhaupt von Lohn reden darf. Denn die Werkstattmitarbeiterinnen und Werkstattmitarbeiter, das sind immerhin 300.000 Leute in Deutschland, müssen sich ihren Lohn verdienen, 70 Prozent dessen, was die Werkstatt als Gewinn macht, wird als Entgelt ausgezahlt. 70 Prozent dessen, was die Werkstatt an Gewinn macht. Diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Werkstatt, die die Anleitungsfunktion haben, – also die Geschäftsführung, die Anleiter in den einzelnen Abteilungen – die bekommen ein richtiges Gehalt, die haben auch einen richtigen Arbeitsvertrag und die werden aus den Tagessätzen finanziert. Das heißt: Unabhängig davon, wie hoch die Produktivität der Werkstatt ist, deren Gehalt ist sicher. Das hängt davon ab, wie viele behinderte Mitarbeiter sie haben – nicht was sie tun und wie gut sie es tun. Ich will ausdrücklich betonen: Das sind hochengagierte Leute. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir dort eine Zwei-Klassen-Situation haben, die indiskutabel ist. Und das aller Merkwürdigste ist: Seit Sommer diesen Jahres werden diese Menschen, – die 300.000, von denen ich gerade sprach – die voll erwerbsunfähig sind, zu den Erwerbstätigen dazugezählt, wenn monatlich die Statistik veröffentlicht wird, wie hoch die Arbeitslosenquote ist. ZU den 41 Millionen Menschen, die in Deutschland beschäftigt sind – zählen diese 300.000 plötzlich mit dazu, seit Sommer dieses Jahres.

Ich denke schon, dass alles sollte uns zu denken geben. Im Übrigen: Trotz dieser tollen Werkstätten, trotz dieser Aussonderungseinrichtung, ist die Arbeitslosenquote von behinderten Menschen doppelt so hoch, seit Jahren doppelt so hoch, wie die von nichtbehinderten Menschen. Wenn wir wirklich wollen, dass gleiche Chancen bestehen, gleiche Lebensverhältnisse bestehen, haben wir noch sehr viel zu tun. Und in diesem Sinne, wollte ich Ihnen einmal diesen Perspektivenwechsel sagen. Versuchen sie sich in diese Situation zu versetzen. Wollen sie in so einer Werkstatt sein? Mit einem Lohn von durchschnittlich 30 bis 180 Euro?

Ein letzter Satz, damit sie sehen, wie absurd das ist: Das geringe Entgelt wird gezahlt mit der Begründung, die Menschen mit Behinderungen haben ja noch eine Grundsicherung oder eine Invalidenrente. Wenn wir das eines Tages einführen, dass die Manager von großen Betrieben angeben müssen, wie viel Kapitaleinkünfte sie haben, entsprechend dem brauchen sie nur noch 130 Euro Lohn zu kriegen, weil sie ja genug andere Einkünfte haben, dann haben wir gleiche Rechte für alle.