Eine progressive Politik braucht eine politische Melancholie und ein politisches Begehren
Rede von Carolin Emcke beim Neujahrsempfang der Partei DIE LINKE
Bei der Einladung zu diesem Empfang wurden mir freundlicherweise keinerlei inhaltliche Vorgaben aufgetragen, aber auf keinen, wirklich gar keinen Fall sollte ich länger als 12 Minuten sprechen. Auf meinen erschrockenen Einwand hin, Kurzstrecke sei jetzt eigentlich nicht so wirklich meine Begabung, wurde mir entgegnet: Angela Merkel habe für ihre Rede auf dem Parteitag gerade einmal doppelt so viel Zeit gehabt.
Nun ja. Angela Merkel als rednerisches Vorbild zu nehmen, scheint mir jetzt für Sie wie für mich gleichermaßen suboptimal.
Stattdessen werde ich versuchen, nur etwas mehr als halb so lang wie Merkel zu sprechen, aber dafür doppelt soviel Substanz anzubieten.
Da ich nicht weiß, was die Codes und Rituale auf Neujahrs-Empfängen verlangen und ich auch die innere Textur von Parteien nicht durchschaue, ahne ich nicht einmal, wessen Erwartung ich wie unterlaufe. Und so spreche ich einfach über das, was mich als Philosophin und Autorin umtreibt. Und das teile ich auf in zwei Motive:
- Erstens, das, was ich nach dem letzten Jahr glaube verstanden zu haben, was mir gewiss ist, was mir unverzichtbar scheint für alle, die sich einer solidarischen, demokratischen Politik verschreiben wollen; und
- Zweitens, das, was ich nicht verstanden habe, was mich nach dem letzten Jahr als Philosophin und Bürgerin ratlos lässt
I. Was unverzichtbar ist
Eine solidarische und demokratische Politik muss für mich drei Eigenschaften aufweisen. Sie muss
- inklusiv,
- international und
- irritierbar sein.
Inklusiv
"There is no hierarchy of oppressions", schrieb die amerikanische Dichterin, Bürgerrechtlerin und Feministin Audre Lourde, es gibt keine Hierarchie der Unterdrückung. Der Schmerz derer, die ausgeschlossen oder eingeschlossen werden, die stigmatisiert oder kriminalisiert, verlacht oder verachtet, ausgebeutet oder verdrängt werden, dieser Schmerz lässt sich nicht aufteilen. Es gibt nicht das Leid der einen, das dringlich ist und das der anderen, das noch ein bisschen warten kann bis es adressiert wird. Es kann keine Priorisierung geben, die nur eine Form der Marginalisierung als relevant anerkennt - und alles andere als vermeintlich elitäre Nöte denunziert und nachordnet. Jener herablassende Diskurs, der versucht, ökonomische gegen kulturelle Ausgrenzung zu stellen, ist normativ wie empirisch fatal. Als ob Armut nicht auch ein Stigma wäre, als ob diejenigen, die arbeitslos sind oder prekär beschäftigt, allein um finanzielle Zugänge und nicht auch um soziale Anerkennung und ihre Würde ringen würden. Als ob rassifizierende, homo- und transphobe Diskriminierung nicht auch ökonomische und soziale Ausgrenzung bedeuteten.
Mal abgesehen davon, dass die Zuteilung, wer da jetzt als "Arbeiterin oder Arbeiter" und wer als "Migrantin oder Migrant", wer als sozial und wer als kulturell Marginalisierte firmiert, schwer konturierbar sein dürfte.
Wer Eribon so gelesen hat als ob dies allein ein Buch eines Intellektuellen aus der französischen Arbeiterklasse sei, hat Eribon nicht gelesen. Wie manche bei der Rezeption von "Rückkehr nach Reims" die Homosexualität des Autors verdrängt haben, ist so bemerkenswert wie symptomatisch.
Umverteilungskämpfe sind immer auch Anerkennungskämpfe. Und umgekehrt. Sie aufzuspalten, sie zu hierarchisieren, hiesse den eigenen Begriff von Gleichheit zu spalten, in gleichere und ungleichere Gruppen und Bezüge, es hiesse den Begriff und die politische Praxis von Anti-Diskriminierung und Solidarisierung aufzugeben.
Die Identitätspolitik, die da jetzt häufig kritisiert wird, weil sie angeblich den enthemmten Neoliberalismus befördert oder begleitet habe, die haben doch nicht wir, die nicht-heterosexuellen, nicht-christlichen, nicht-weissen, nicht-Konformen erfunden. Sondern Identitätspolitik haben diejenigen erfunden, die Menschen wie uns marginalisieren wollen.
Ich sehe nicht, wie sich verschiedene Formen der Unterdrückung und Marginalisierung bekämpfen ließen ohne eben immer beides zusammen zu denken und auch dementsprechend im Vokabular und der Rhetorik zu adressieren: Anerkennung und Umverteilung. Soziale und politische Fragen, ökonomische und ökologische, sie alle gehören zu dem, was eine emanzipative Politik adressieren muss.
International
Die autoritären, chauvinistischen Bewegungen und Regierungen, die sich gegen heterogene, freie Gesellschaften wenden, existieren längst weltweit: ob in der Türkei oder in Brasilien, in Ungarn oder in Russland, in den USA oder in eben auch hier bei uns: die Dogmatiker, die ein Früher propagieren, ein Damals, das es nie gab, in dem es noch eine homogene Nation, eine natürliche Familie, eine reine Gesellschaft gegeben habe, die von einem "Volk" reden, das sie angeblich repräsentieren, um es mit der eigenen Steuer- oder Bildungspolitik zu verraten, sie bedrohen nicht nur Menschen, die so lieben wie ich, sondern sie bedrohen alle, die in einer solidarischen, freien, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Sie, die "die Nation" emblematisch vor sich hertragen, sie agieren, argumentieren, taktieren international: es sind internationale Finanzströme, die diese Bewegungen und ihre Kandidaten unterstützen, so wie es internationale Netzwerke sind, die ihre ideologischen Positionen, Diskurs-Fetzen und ihren Hass verbreiten.
Auf die rechtsradikale, rechtspopulistische Bedrohung unserer Demokratien lässt sich so wenig national antworten wie auf die sozialen Kontrollverluste im aggressiven Kapitalismus. Desintegrationstendenzen, die international organisiert werden, lassen sich nicht dadurch abstellen, dass eine Nation heraufbeschworen wird, die noch weniger Kontrolle oder Sicherheit garantiert und vor allem wieder Menschen als nicht-zugehörig ausschließt.
Um es etwas anders zu formulieren: der entfesselte, autoritäre Kapitalismus und die rechtsradikalen Fanatiker der Reinheit lassen sich nicht dadurch kritisieren, dass Kosmopolitismus als Gefahr stilisiert wird. Jede, wirklich jede migrantische Familie, jede bi-nationale Beziehung ist kosmopolitisch.
Globale und lokale Fragen müssen immer zusammen gedacht und ineinander übersetzt werden. Progressive und solidarische Politik kann und muss auf europäischer Ebene argumentiert und verhandelt werden. Wird sie das nicht, gibt es bald keine europäische Ebene mehr. Und gibt es auch keine Solidarität mehr. Für niemanden. Nicht im globalen Norden und im globalen Süden ohnehin nicht.
Irritierbar
Vielleicht mag das wie ein Widerspruch erscheinen. Warum sollte zu dem, was mir gewiss scheint, die Irritierbarkeit gehören? Nun, weil ich mir politisches Handeln, weil ich mir soziale Kritik an Unterdrückung nicht anders denken kann und will, als etwas Dynamisches, als einen Prozess, der uns als Individuen, als sozialen Kollektiven und eben auch als ganzer Gesellschaft das Lernen erlaubt. Ja, mehr noch, eine Demokratie kann nur bestehen, wenn sie jene Strukturen permanent erweitert und vertieft, in denen sich lernen lässt.
Warum?
Weil sich politische, ökonomische, soziale, ökologische Gegebenheiten ändern, weil die eigenen politischen Überzeugungen immer blinde Flecken produzieren, weil wir nachlässig werden und meinen, die eigenen theoretischen Versatzstücke, das eigene soziale Vokabular nicht mehr überprüfen zu müssen. Vielleicht auch, weil der politisch-mediale Komplex einem das Nicht-Wissen, den Selbstzweifel, das Eingestehen von Irrtümern nicht verzeiht. Oder weil wir selbst denken, dass es unverzeihlich wäre.
Mich zumindest irritieren diese finsteren Zeiten. Ich bin nicht sicher, mit welchen Begriffen ich dingfest machen kann, was genau sich da tektonisch verschoben hat. Ich bin skeptisch, ob meine eigenen Zeitdiagnosen zutreffen. Es gibt - immerschon - ein endloses Spektrum an Fragen, bei denen ich widersprüchlichen politischen Intuitionen nachhänge, oder: wo ich weiß, dass gegen meine eigene durchaus stabile Überzeugung vernünftiger Dissens vorzubringen wäre.
So sehr ich als Philosophin unter dieser Irritierbarkeit leide, so sehr ich wünschte, mich analytisch weniger verwundbar zu fühlen, so sehr glaube ich, dass die Bereitschaft, sich verstören zu lassen, die diskursive Fähigkeit zur Perspektivübernahme, zum Nachjustieren von individuellen oder kollektiven Überzeugungen den existentiellen Kern einer demokratischen Gesellschaft (aber eben auch jeder Partei) ausmacht.
II. Was unsicher ist
Was mich im letzten Jahr dagegen ratlos zurückgelassen hat und von dem ich mir wünschen würde, dass wir darüber heute und auch in Zukunft ins Gespräch kämen, ist dies:
Was heisst demokratische Willensbildung eigentlich noch? Wo und wie findet demokratische Willensbildung statt?
Ich habe tatsächlich keinen Schimmer. Das Netz, die sozialen Medien, die mir vor wenigen Jahren noch der Raum zu sein schienen, in dem demokratische Selbstverständigungsdiskurse statthaben konnten - diese Vorstellung von sozialen Medien als Orten des freieren, zivilgesellschaftlichen Austauschs, ist entzaubert. Wie der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl es einmal formuliert hat: die sozialen Medien sind vornehmlich der Ort der Unwillens-Bekundung, oder: vielleicht eben das Instrument, über das anti-demokratische, menschenverachtende Affekte geschürt, Diskurse manipuliert und sabotiert - und letztlich Wahlen und Referenden in ihrem Ausgang verändert werden können. Ob dies durch zivilgesellschaftliche oder geheimdienstliche Akteure geschieht, mag divers sein - das Misstrauen, das sich daraus ergibt, hat ein zersetzendes Potential, das viel zu wenig diskutiert wird.
Die Frage ist längst nicht mehr bloß, ob es post-faktische Zeiten sind, in denen wir leben und ob Desinformation und Lüge einzelne Sachverhalte verzerren. Sondern es geht darum, ob - wie Hannah Arendt das sagen würde - die permanente Lüge, die Aufhebung des Unterschieds zwischen wahr und falsch, eben die Wirklichkeit selbst als etwas, das allen gemeinsam ist, auflöst wird.
Das ist das wirklich Dramatische: dass nichts mehr gemeinsam ist, dass es letztlich keine res publica mehr geben soll.
Wenn es aber keine un-manipulierte demokratische Willensbildung mehr gibt, wenn sprachliche Äußerungen, wenn politische Artikulationen, wenn Volksbefragungen oder Referenden mit Misstrauen betrachtet werden müssen - was heisst das eigentlich? Wie belastbar ist die Orientierung an Meinungsumfragen, wenn diese Meinungen nicht nur unvernünftig sind (wie es bei Habermas vielleicht hiesse), sondern manipuliert und destruktiv sind.
Wenn sich berechtigte Verzagtheit, wenn sich echte soziale Isolation in öffentlichen Artikulationen oder Voten verwandelt in unberechtigte Ressentiments oder unsinnige Forderungen, was heisst dann demokratische Souveränität? Und welcher Auftrag ergibt sich daraus für politische Akteure? Müssen diese politischen Affekte als unantastbare Überzeugungen bestätigt und umgesetzt werden? Oder müssen sie kritisiert und befragt werden?
"Im New York Review of Books erzählt die Labour-Abgeordnete Lisa Nandy, wie tief der Slogan von der Wiederlangung "der Kontrolle" während der Brexit-Kampagne die Menschen ihres Wahlkreises in Ost-England berührt habe. Beim Besuch einer Nissan-Fabrik in Sunderland hatte Nandy den Arbeiterinnen und Arbeitern erläutert, dass in dieser Gegend eben solche Arbeitsplätze wie die ihren bei einem Austritt aus der EU verschwinden würden. Als sie ihnen vorrechnete, wie fatal sie direkt betroffen wären, stand ein Arbeiter auf und sagte, sie wüssten das - und sie würden trotzdem für einen Austritt stimmen.
Wie machtvoll ist nun eine Entscheidung, die die eigene Ohnmacht letztlich vergrößert? Wie rational ist es, sich gegen die soziale Isolation in strukturschwachen Regionen, gegen britische oder europäische Austeritätspolitik, gegen die Aushöhlung sozialer Sicherungssysteme wehren zu wollen mit einem Votum, das all diese Zustände nur verschlimmert?
Was mich umtreibt, ist: Wenn es womöglich nicht um den Inhalt der politischen Wünsche, wenn es nicht um das Objekt des Begehrens (weniger Migranten, eigene Währung, geschlossene Grenzen) geht, sondern darum, überhaupt anerkannt zu werden als jemand, der oder die wünschen kann - was muss dann verändert werden? Wenn es gar nicht um ein konkretes Gesetz, eine bestimmte Steuer, eine Mitgliedschaft in einer internationalen Ordnung geht, sondern um die soziale Infrastruktur in unserer Gesellschaft, die dermaßen ausgehöhlt wurde, dass Menschen sich schlicht nicht mehr als Subjekte einer Gemeinschaft fühlen - wie dramatisch ist dann dieses Votum?"
Und da verknüpfen sich für mich die Fragen nach dem Ort und der Form der demokratischen Willensbildung: wo gibt es jene Räume, die es braucht, damit sich frei und geschützt sprechen und denken lässt, wo sich auch die eigenen Widersprüchlichkeit, die eignen Ambivalenzen, die kontroversen Positionen so erörtern lassen, ohne Verleumdungen, ohne Hass, ohne Anfeindungen einzuladen; welche Orte, welche Instrumente braucht es, die mehr herstellen als simulierten Diskurs der Talkshows, die nur die obszöne Lust am Tabubruch oder zirzensische Raubtier-Folklore interessiert? Wie lässt sich Wissen und Information distribuieren, wenn die Monopole bei Konzernen wie Google oder Facebook liegen, die keinerlei Interesse zeigen, die Wirklichkeit abzubilden oder die menschliche Würde zu respektieren? Wie sehr brauchen Medienkonzerne eine Gemeinwohlorientierung oder kodifizierte Regeln, nach denen sie Kommunikation filtern? Wie lässt sich eine demokratische Öffentlichkeit organisieren, an der alle teilhaben können und die den Bezug zur Wirklichkeit nicht negiert?
Das ist nicht einfach eine Frage des Überbaus.
Das ist eine existentielle Frage der Demokratie und der sozialen Infrastruktur, die sie bereitstellen muss. Wie sie gesichert werden kann, weiß ich nicht, aber ich würde mich freuen, wenn wir darüber ins Gespräch kämen.
Ich würde gern - wie sich das gehört zum Neuen Jahr - mit einem hoffnungsvollen Gestus schließen:
Eine progressive, inklusive, gerechte Politik braucht immer beides: eine politische Melancholie, die den Schmerz und die Not aufnimmt von denen, die ausgeschlossen oder eingeschlossen werden, die die Trauer derer versteht, die nicht teilhaben können, weil sie keine Kraft mehr haben, weil sie keine Sprache haben oder keine Übung, weil sie unsichtbar und unhörbar gemacht werden, weil sie anders aussehen, anders lieben anders glauben als die Norm, und eine progressive, inklusive, gerechte Politik braucht ein politisches Begehren, eine Lust auf einander, sie braucht ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Gesellschaft, zu der andere gern gehören wollen. Es braucht eine widerständige Freude, ohne die es sich nicht mobilisieren lässt. Deswegen gehören für mich die Geschichten und Erfahrungen der Ausgrenzung so zum politischen Diskurs dazu wie die Geschichten vom dissidenten, nicht-entfremdeten Glück.
Das nehme ich mir zur Aufgabe für 2019 - aber vielleicht gilt das ja auch für manchen von Ihnen. Frohes Neues Jahr.