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Ilja Seifert

Behindertenwerkstatt für alle!

Kein Positionspapier, sondern eine Einladung zu einem Perspektiven-Tausch - Von Ilja Seifert, Mitglied des Parteivorstandes

Behindertenwerkstatt für alle! Das klingt provokant, ja irritierend. Bei dieser Irritation geht es nicht darum, die zu geringe Bezahlung und das Fehlen von Betriebsräten in den Werkstätten zum Standard zu erheben. Vielmehr geht es um eine Einladung zu einem Perspektiven-Tausch. Aber "Werkstatt für alle" hieße auch: Entschleunigung, Miteinander statt Konkurrenz am Arbeitsplatz, Arbeitsplatz als Ort für soziale Kontakte ..."

1. Wie "funktionieren Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfMmB)?

Um "werkstattfähig" genannt zu werden, muss man "dauerhaft erwerbsunfähig" sein. Das wiederum muss amtsärztlich festgestellt werden. Das einzige Kriterium - ein rein medizinisches - lautet: Man darf nicht länger als 3 Stunden (genau genommen: 2 Stunden + 59 Minuten) pro Tag "arbeitsfähig" sein. Dann allerdings darf man gern ganztägig in einer WfMmB "beschäftigt" werden. Die Absurdität ist offensichtlich.

In der Werkstatt hat man einen "arbeitnehmerähnlichen Status". Es gibt einen Werkstattvertrag, keinen Arbeitsvertrag. Es gibt einen Werkstattrat, keinen Betriebsrat. Es gibt auch keine Gewerkschaft, die sich "zuständig" fühlt.

Das "Entgelt" wird aus dem "Betriebsgewinn" gezahlt. 70 Prozent des erwirtschafteten Überschusses werden - leistungsabhängig - an die behinderten Beschäftigten ausgezahlt. Die restlichen 30 Prozent sind "Reserve" für auftragsschwache Zeiten und sie sollen für psychologische, kulturelle, sportliche und sonstige nicht-produktive Tätigkeiten (vorwiegend während der Arbeitszeit) verwendet werden.

Das Entgelt beträgt z.Z. durchschnittlich rund 130 Euro (mancherorts 180 Euro). Es gibt eine Mindestzahlung, die unter 100 Euro liegt. Argumentiert wird immer damit, dass die "Beschäftigten" ja noch "Grundsicherung" oder "Erwerbsminderungs-Rente" bezögen. (Interessant/gerecht/logisch/originell wäre das, wenn auch Top-Manager/innen - mit Verweis auf Kapitaleinkünfte - nur ein Taschengeld erhielten.)

Die Angestellten (einschließlich Geschäftsführer/in) der WfMmB - die meist hoch motiviert und sozial engagiert sind - haben selbstverständlich Arbeitsverträge, können sich gewerkschaftlich organisieren und erhalten ein festes Gehalt. Letzteres wird aus den "Tagessätzen" finanziert, die der Werkstatt "pro Beschäftigten" zufließen. Es ist also unabhängig von der Produktivität, aber sehr abhängig von der Anzahl der "Beschäftigten".

2. Was ist so gut an WfMmB?

Das Fehlen von Betriebsrenten, die geringe Entlohnung. Werkstätten sind arbeitsintensiv - wenig kapitalintensiv - organisiert. Sie versuchen, möglichst viele Personen am Arbeitsprozess zu beteiligen. Nur in wenigen Abteilungen (das sind allerdings doch häufig diejenigen, die den "Überschuss" erwirtschaften) kommen moderne Maschinen zum Einsatz (z.B. Wäscherei, Druckerei).

Das "Konzept Werkstatt" sieht "Entschleunigung" ausdrücklich vor: es gibt Turnhallen, Entspannungsräume; Spaziergänge sind möglich usw.

Nach 20 (!) Jahren WfMmB-"Arbeit" hat man Anspruch auf eine Rente. Sie liegt geringfügig oberhalb der Grundsicherung. (Es werden pro Jahr etwa 0,8 Rentenpunkte gutgeschrieben.)

Vor allem psychisch kranke Werkstatt-Beschäftigte, die zuvor auf dem sogenannten "ersten Arbeitsmarkt" tätig waren (und dort scheiterten), heben gern hervor, dass in der WfMmB wesentlich "weniger Leistungsdruck" bestünde und sie sich deshalb dort wohl fühlten.

Eines der Hauptargumente für Werkstätten ist, dass sie den Beschäftigten Tages-, Wochen- und Jahresstruktur böten und so viele von ihnen vor der Verwahrlosung schützten.

Wenn es für die/den einzelne/n Beschäftigte/n unzumutbar oder sehr beschwerlich ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder eigenem Fahrzeug zur Werkstatt (und wieder nach Hause) zu kommen, werden sie - zuzahlungslos! - mit Fahrdiensten und/oder Taxi befördert. Die Kosten dafür übernimmt das Sozialamt. Paradoxerweise wird das alles aus der "Eingliederungshilfe" bezahlt, obwohl es sich doch um eine klassische Ausgliederung aus dem allgemein üblichen Verkehr und Berufsleben handelt. (Wenn ein/e Werkstattbeschäftigte/r tatsächlich auf den "ersten Arbeitsmarkt" wechselt, entfällt die Kostenübernahme für den Fahrdienst sofort.)

WfMmB sind überwiegend in modernen, barrierefreien Gebäuden tätig. Sie verfügen über "Nebenräume" für sportliche und/oder kulturelle Selbstbetätigung sowie für individuelle physiotherapeutische Behandlung und/oder Entspannungsphasen. Auch begrünte Außenflächen sind durchaus üblich.

3. Wie wäre "Werkstatt für alle"?

Entschleunigung täte wohl jeder und jedem Werktätigen gut? Verminderte Arbeitshetze, geringerer Leistungsdruck, größere Ruhe und eine insgesamt entspanntere Arbeitsatmosphäre sind/wären wünschbar/optimal für alle Arbeitsplätze. Die Möglichkeit, während der Arbeitszeit - kollektiv und/oder individuell - "Auszeiten" nehmen zu können (für sportliche oder kulturelle Beschäftigung, für Spaziergänge oder physiotherapeutische Behandlung usw.), gefiele gewiss auch den meisten Menschen auf dem "ersten Arbeitsmarkt". (In manchen High-Tech-Firmen wird ja Derartiges durchaus auch schon praktiziert.)

Wer aber wäre bereit, für ein Taschengeld zu arbeiten?

Wer aber wäre bereit, als "arbeitnehmerähnliches Wesen" zu gelten?

(Erstaunlicherweise spricht man in Sonderschulen (noch?) nicht von "schülerähnlichen Wesen":)

Wer aber wäre bereit, innerhalb eines Betriebes nach gänzlich unterschiedlichen Prinzipien entlohnt zu werden? (gewinnabhängig diejenigen, die keinerlei Einfluss auf Auftragsakquise und Absatz haben; beschäftigtenzahlabhängig diejenigen, die den gesamten Produktionsprozess (an)leiten).

Aber: geringerer Arbeitsdruck, ggf. kostenfreier Transfer, psychologische und/oder physiotherapeutische Begleitung könnten als Schritt zur "Humanisierung der Arbeitswelt" gelten.