Zum Hauptinhalt springen
Katja Kipping

Wie bearbeiten wir die Zukunftsfragen unserer Politik?

Bemerkungen auf der Sitzung des Parteivorstandes am 15. Oktober 2017

Liebe Genossinnen und Genossen,

für mich ist dies eine entscheidende Sitzung unseres Parteivorstandes. Wir sind ein Leitungsgremium. Wir alle sitzen hier, weil der Parteitag der Meinung war, dass wir diejenigen sind, die die Vielfältigkeit der innerparteilichen Diskussionen zusammenführen und voranbringen sollen.

In den letzten Wochen sind viele Emotionen hochgekocht. Auch bei mir hat sich einiges angestaut angesichts eines negativen postfaktischen medialen Spins zu meiner Person, der offensichtlich bereits im Wahlkampf mit viel Eifer von einigen vorbereitet wurde.

Jedoch bin ich überzeugt, dass es uns gemeinsam nicht voranbringt, dies jetzt im Einzelnen auseinanderzunehmen. Denn es geht heute nicht nur darum, wie wir miteinander umgehen, sondern es geht darum, was unsere gesellschaftlichen Aufgaben sind – auch angesichts eines gesellschaftlichen Rechtsrucks.  Und die Lage ist ernst. Deshalb möchte ich einige grundsätzliche Ausführungen machen.

Als wir das letzte Mal, also am Montag nach der Bundestagswahl zusammentrafen, schloss ich mit den Worten, es geht jetzt um „Geschlossenheit und Nachdenklichkeit“. Ich wiederhole: Um Geschlossenheit als Partei und um Nachdenklichkeit angesichts der Fragen, die das zweifellos für uns gute Wahlergebnis uns dennoch auferlegt hat.

Wir haben im 10. Jahr unserer Existenz als DIE LINKE das zweitbeste Ergebnis unserer Geschichte erreicht. Das ist ein Erfolg, den wir uns nicht kleinschreiben lassen dürfen. Jahrelang wurde von den Medien über uns geschrieben, dass wir eine überalterte Partei, eine reine Regionalpartei seien, der der Untergang drohe. Nun haben wir bei diesen Wahlen gezeigt, dass wir flächendeckend im Westen, auch im konservativeren Süden, über 5 Prozent und bei den jüngeren Wähler*innen sogar bei 11 Prozent liegen. Das zeigt, wir sind eine bundesweite Partei mit guten Zukunftsperspektiven.

Dieses Wahlergebnis ist uns allen zu verdanken. Wir verdanken es unseren guten Inhalten, wir verdanken es unseren zwei Spitzen Sahra und Dietmar, wir verdanken es unserem Bundeswahlkampfleiter Matthias, wir verdanken es allen Kandidierenden, allen Mitarbeitenden, allen ehrenamtlichen Genoss*innen – und wir verdanken es auch den beiden Parteivorsitzenden. Also Bernd und mir. Bei aller Bescheidenheit möchte ich das auch einmal sagen.  

Die Freude über diesen Erfolg verstellt uns aber nicht den Blick darauf, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag eindeutig nach rechts verschoben haben. Dies ist auch das Ergebnis einer Hegemonieverschiebung nach rechts. Diese wird befeuert von der AfD, von den Stiefel-Nazis, die wie z.B. in Freital auch vor Sprengstoffanschlägen auf linke Kommunalpolitiker zur Einschüchterung nicht zurückschrecken. Sie setzt sich fort in einer programmatischen Rechtsverschiebung bei der Union sowie in der Übernahme von rechten Deutungsmustern selbst in ehemals linksliberalen Medien und in den Themensetzungen in den Talkshows.

Wenn das Thema Burka, wovon bundesweit einige hunderte Frauen betroffen sind, deutlich mehr Aufmerksamkeit und Sendezeit bekommt als das Thema Altersarmut, wovon Millionen Frauen und Männer hierzulande betroffen sind, hat es die Rechte leichter. Wenn das Thema Obergrenze bei Geflüchteten zum Hauptthema vor der Sondierung der Jamaika-Koalition wird und niemand über eine Untergrenze für Armut spricht, dann hat es die Rechte leichter.

Wie bei der Eurokrise haben die Rechten auch in der Flüchtlingsfrage die Deutungshoheit gewonnen. Und ich füge hinzu:  vorerst, denn es gibt trotzdem Millionen hierzulande, die sich in der Flüchtlingssolidarität engagieren, die gegen Trump und die neue Rechte auf die Straße gehen. Darin liegt auch Hoffnung für die Zukunft.

Und doch müssen wir uns dem Umstand stellen, dass wir nicht nur viele Wähler*innen hinzugewonnen haben, sondern auch viele Wähler*innen verloren haben.
 
Jeder der uns wählt, ist ein Gewinn für die LINKE. Es gibt keine besseren oder schlechteren Wähler*innen, es gibt keine eigentlichen und uneigentlichen Wähler*innen. Wer sich für uns entscheidet, entscheidet sich nicht für mehr oder weniger soziale Gerechtigkeit, sondern er entscheidet sich für ein gerechtes Land. Das ist immer gut und hier sind uns alle willkommen.

Trotzdem müssen wir uns sehr ernsthaft befragen, warum wir in bestimmten Regionen und Schichten verloren haben. Wir haben im Osten enorme Rückgänge, besonders auf dem Land. Wir haben eine deutlich gestiegene Präsenz bei jungen Leuten. Auch im Ergebnis unserer Kampagne „Das muss drin sein“ konnten wir bei gewerkschaftlich Engagierten besonders gut punkten. Aber wir haben bei den Erwerbslosen und Arbeiter*innen unser Potential nicht in dem Maße ausschöpfen können.

Es gibt den Hinweis auf eine veränderte Mitgliederstruktur – besonders im Osten. Das ist richtig. Auch wenn die Parteimitgliedschaft jung hält, ist unsere Mitgliedschaft im Osten deutlich älter geworden im Durchschnitt.  Zudem stellt die Parteiarbeit im ländlichen Raum ganz andere Herausforderungen an Mobilität. Hinzu kommt, dass es oftmals linke junge Leute in die Städte zieht. Nicht nur weil es dort mehr Jobs und Studienplätze gibt, sondern auch weil es dort weniger Nazis gibt bzw. diese nicht in dem Maße dominant sind. Diese sich selbstverstärkende Dynamik stellt enorme Anforderungen an den Parteiaufbau. Wir müssen uns damit beschäftigen, besonders jetzt, wo wir so viele Eintritte von jüngeren Menschen haben.

Wir haben noch ein anderes Problem. Es hängt zusammen, aber es ist nicht das Gleiche. Ich meine, wie sich unsere Gesellschaft verändert und was die Stimmungslagen der Menschen sind.

Spätestens seit dem Sommer 2015 ist offensichtlich geworden: Unsere Welt hat kein Außen mehr. Andere sagen: Die Welt ist aus den Fugen. Kriege, Flucht und Vertreibung finden nicht mehr irgendwo anders statt, sondern die „Verdammten dieser Erde“ sind zu uns gekommen.

Das bewegt uns, das bewegt die Menschen im Land, das verändert unser Land. 

Wir leben heute in einer Welt, in der nahezu alle mit ein paar Mausklicks alles vergleichen können. Die Globalisierung hat unsere Welt also auch in ein Dorf verwandelt und dieses Dorf lebt unter der Vorgabe des globalen Vergleichs. Wenn aber alle alles vergleichen können, dann haben auch immer mehr Angst etwas zu verlieren. Sie fühlen sich ausgeliefert.

Wir erleben also eine neue, eine doppelte Spaltung. Sie war immer da, aber jetzt bestimmt sie mit voller Wucht die Debatte und ja auch die Selbstzuordnungen der Menschen. Es gibt die Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen Mittellosen und Besitzenden.

Zu diesem traditionellen Klassenverhältnis ist nun ein neues hinzugetreten: die zunehmende Trennung zwischen denen, die sich - vereinfacht ausgesprochen –  als „Modernisierungsgewinner“ sehen und jenen, die sich als „Modernisierungsverlierer“ fühlen. Und auf beiden Seiten sind Arbeiter*innen und potentielle linke Wähler*innen zu finden.

Auf der einen Seite sind jene, die mobil und überall sind oder sein können. Sie sind weltoffen, sie können an unterschiedlichen Orten leben, sie leben gefühlt im Überall. Einige nennen diese Gruppen in unseren Debatten das „urbane Milieu“. Ich nenne sie lieber die Weltoffenen. Nur wenige von ihnen sind reich, sie werden es vielleicht auch nie sein. Viele von ihnen leben von prekären, unsicheren Jobs. Jedoch sind sie gebildet und haben bestimmte kulturelle Vorrausetzungen, die Welt zu sehen und sich in ihr heimisch zu fühlen.

Es ist gut, dass diese Wähler*innen vermehrt zu uns finden, weil sie die LINKE als die Kraft sehen, die die soziale Frage mit der ökologischen und letztlich auch mit der Demokratiefrage verbindet. Und nicht wenige von ihnen sind für Kapitalismuskritik zu begeistern. Wir können darauf stolz sein, dass wir über die letzten Jahre diese Attraktivität gewonnen haben. Das ist auch das Ergebnis der Arbeit der Parteiführung.

Aber schon im Moment dieses Stolzes darüber muss uns klar sein, dass wir unsere anderen Wurzeln nicht verlieren dürfen. Und ich möchte noch einmal daran erinnern, dass unsere Wahlstrategie immer darauf angelegt war, die verschiedenen Milieus anzusprechen: Sowohl die Beschäftigten und die Mittelschichten wie die Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben, wie die Jüngeren, die Weltoffenen.

Ja, es gibt nicht nur jene, die im Überall leben. Es gibt auch jene, die gefühlt im Nirgendwo leben. Sie besitzen ihren einen Job oder gar keinen. Sie besitzen ihre eine Identität, sie leben beispielsweise in ländlichen Räumen. Und wenn das, was sie bisher als Arbeit kannten, ihre Gegend verlässt – dann bleiben sie zurück. Sie sind nicht immer unbedingt ganz arm. Sie wissen jedoch sehr genau, dass sie noch ärmer werden können. Einige haben tatsächlich Existenzängste. Nicht wenige eher Abstiegsängste, da sie noch etwas zu verlieren haben. Und sie wissen: dass sie nichts mehr hinzugewinnen können. Es gibt für sie kein Aufstiegsversprechen mehr. Es gibt nur noch Stillstand – oder Abstieg.

Wie wir jene, die sich eher als „Modernisierungsverlierer“ fühlen, ansprechen - das ist eine Frage, die wir sehr ernsthaft gemeinsam bearbeiten müssen. Der einfache Aufruf, die Arbeiter anzusprechen reicht da nicht. Schließlich gilt es, bei jenen zunächst die Erkenntnis zu wecken, dass man selber ein Arbeiter ist und nicht zuallererst ein Deutscher, der sich gegen Nicht-Deutsche zur Wehr setzt. Nein, wir müssen diesen Menschen ein wirkliches und ein sehr glaubhaftes Angebot machen können, dass es ihnen und allen mit links besser geht als mit rechts. Wir müssen dabei etwas in Beziehung setzen, was sich sogar zuweilen widerspricht. Weltoffenheit versus Rückzug vor dieser Welt im Wandel, „Modernisierungsbefürworter“ versus „Modernisierungsverweigerer“. Wir müssen die Verbindung finden und in uns müssen die Menschen ihre Vertretung sehen. Das ist eine soziale Klammer, es ist aber auch die kulturelle Verbindung der Gleichheit aller Menschen und der Solidarität einer offenen wie sichereren Gesellschaft für alle.

Es ist also müßig und vollkommen unproduktiv, wenn wir uns nun in ideologischen Streitereien verlieren würden, welches Milieu uns lieber ist, welches Milieu das linkere ist. Wir können sowieso nicht die einen gegen die anderen eintauschen. Denn – schauen wir uns nur um auf unseren Parteitagen - wir sind schon längst beides. Wir sind längst nicht mehr Milieupartei, sondern wir haben das Potential einer größer werdenden Gerechtigkeitspartei für alle.
 
Vielmehr sollten wir uns anschauen, welche unserer bisherigen Aktivitäten welche Ergebnisse erzielt haben. Was von dem Begonnenen wir ausbauen sollten, was wir neu entwickeln müssen. Können regelmäßige Haustürbesuche - nicht nur im Wahlkampf - Verschiebungen bewirken? Unsere Kampagne "Das muss drin sein" hat mit dazu beigetragen, dass das Thema Personalmangel in der Pflege mehr Beachtung bekam und dass wir in dieser Frage eine große Glaubwürdigkeit hatten. Wie können wir solche Effekte verstärken? Welche Veranstaltungsformate erreichen eine nachhaltige Perspektivverschiebung?

Ich habe im Wahlkampf wahrlich nicht nur in Hörsälen diskutiert, sondern bin auch mit meinem roten Wohnzimmer in die Wohnviertel rein. Damit haben wir Menschen, die sich nicht auf den Weg zu einer linken Kundgebung machen würden, zum gemeinsamen Gespräch eingeladen. Ich war wahrlich nicht nur in den alternativen Vierteln, sondern im Besonderen in Plattenbaugebieten unterwegs, auch in Hausfluren, in denen einen die Hoffnungslosigkeit direkt anspringt.

Mir war es wichtig, wenn immer in einer Saalveranstaltung die Frage nach der Abschiebung von kriminellen Ausländern kam (und sie kam fast immer), diese so zu beantworten, dass unsere Haltung eindeutig bleibt. Aber auch so, dass nicht nur diejenigen im Saal klatschten, die meine Meinung von Anfang an teilten, sondern dass die Fragestellenden jeweils auch einen Gedanken mitnehmen konnten und sich selber mitgenommen fühlten, ja sich am Ende sogar bedankten.

Meine Beobachtung aus all jenen Gesprächen ist folgende: Es gibt die Mehrheit der Unentschiedenen und es gibt zwei ideologisch gefestigte Gruppen. Da sind jene, für die soziale und globale Gerechtigkeit untrennbar zusammenhängen. Sie erwarten von uns klare Kante gegen rechts und kommen mit konkreten Anliegen zu uns. Die andere gefestigte Gruppe geht durch und durch in gruppenbezogenem Menschenhass auf. Für sie lautet der antagonistische Widerspruch: Wir Deutschen gegen die Anderen, gegen die Ausländer, die Flüchtlinge, die Migranten, die Muslime – vielleicht auch mal wieder gegen die Juden. Diese gefestigte Gruppe ist kaum zu gewinnen.

Und dann gibt es jene, bei denen offen ist, ob sie sich zuallererst als Deutsche sehen, oder eher als Mieter, der sich über steigende Mieten beschwert oder als Erwerbslose, die sich vom Job-Center schikaniert fühlt oder als Beschäftigter, der z.B. sauer auf seinen Chef ist, weil er wieder nur einen befristeten Arbeitsplatz bekommt. Ob diese Menschen letztlich eher die Rechten oder die Linken stärken hängt auch davon ab, welche Konflikte sie als entscheidende empfinden. Welche ihre Alltagsgespräche und ihre Aktivitäten bestimmen.

Und hier haben wir eine große Aufgabe. Wir müssen eben jene anderen Konfliktdimensionen jenseits der ethnischen Dimension stark machen. Den Kampf um jene Unentschiedenen gewinnen wir weder mit antirassistischen Slogans noch mit einem kalkulierten Konformismus gegenüber real existierenden Vorurteilen gegenüber Geflüchteten. Und dieser Satz stimmt nur, wenn er ganz zitiert wird: Weder mit einfachen antirassistischen Slogans noch mit wahltaktischem Konformismus gewinnen wir jene ideologisch Unentschiedenen.

Sobald als zentrale Konfliktdimension Deutsche versus Andere aufgerufen ist, verlieren wir Linken. Um alle Missverständnisse zu vermeiden: Antirassistische Slogans sind wichtig, um jene, die hier klar sind, zu stärken und zu ermuntern. Sie sind wichtig als Orientierung für die junge Generation, die sich an dieser Frage politisiert. Fürs Gewinnen der ideologisch Schwankenden gilt es, die sozialen Konfliktdimensionen zu stärken: als Mieter gegen Miet-Haie oder Hedgefonds. Als Beschäftigte gemeinsam gegen Befristungen, als Erwerbslose gemeinsam gegen Hartz-IV-Sanktionen etc. Wir müssen dabei die Menschen verstehen, um verständlich zu sein. Wir müssen aus den Konflikten sprechen und nicht über sie. Wir müssen das abbilden können, was die Menschen bewegt und sie nicht agitieren. Vertrauen entsteht durch Anpacken. Glaubwürdigkeit entsteht durch Veränderung. Veränderung braucht Durchsetzung. Es muss sich lohnen, mit uns zu sein, weil es mit uns mehr gibt, als mit den anderen.

Oder um es mal anders zu sagen, die Frage an uns lautet: Wie können wir dafür sorgen, dass Merkel nicht für ihre Flüchtlingspolitik, sondern für ihre Politik der sozialen Spaltung ausgepfiffen wird?

Eine linke Partei muss nah an den Menschen sein und ihnen auf den Mund schauen, jedoch nicht nach dem Munde reden. Denn die LINKE sollte immer auch Impulsgeber für politische Auswege aus dem Elend der Verhältnisse sein. Es geht für uns also nicht nur darum, was ist, sondern immer auch was sein sollte.

Wie kommen wir nun gemeinsam bei diesen Fragen voran – nicht nur theoretisch, sondern in unserer Praxis? Ganz sicher nicht mit Vorwürfen an uns oder andere, wer der eigentlich Linkere ist. Ganz sicher nicht mit geistreichen Bonmots, ob Linke besser Bier oder Weißweinschorle trinken sollten, um der Arbeiterklasse nah zu sein. Eher dadurch, dass wir einige Fragen wirklich ernsthaft gemeinsam bearbeiten.

Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Und wir müssen diese Fragen mit Zukunftsfragen verbinden. Heute diskutieren wir über die Ängste, die die Migration auslöst. Die Veränderungen, die im Zuge von Digitalisierung anstehen, werden sehr wahrscheinlich im Alltag viel fundamentaler ausfallen. Insofern müssen wir auch darüber sprechen, wie der Sozialstaat in Zeiten von Digitalisierung gestaltet wird. Ja, wir müssen die Debatte um den Sozialstaat, um die Sozialstaatsgarantie gesellschaftlich stärker in den Fokus rücken.

Doch noch mal zurück zur aktuellen Debattenlage in unserer Partei. Gerade kochen einige Konflikte hoch. Und natürlich sind einige Wortmeldungen auch im Vorfeld der bevorstehenden Fraktionsklausur ein bisschen taktisch überformt. Doch wenn wir das mal beiseite schieben, sind die zum Teil sehr heftigen Kontroversen auch Ausdruck eines Ringens.

Wir zerren aneinander, weil wir uns gegenseitig von der richtigen Richtung überzeugen wollen. Wir glauben, dass einige es besser als andere können. Ich meine allerdings, dass wir es nur zusammen können. Ein Kampf um den Osten, ein Kampf für den Westen. Ein Angebot an all jene, die jetzt zu uns gekommen sind und ein konsequentes Ringen um die, die uns verlassen haben.

Ich schlage daher vor, dass wir all die den aktuellen Auseinandersetzungen zu Grunde liegenden Fragen in einem verbindlichen Verfahren bearbeiten. Wir brauchen eine Reihe von Foren und Zusammenkünften, in denen wir uns über die aufgerissenen Fragen verständigen.

Es ist die Aufgabe unseres Parteivorstands, diese Diskussion in die Wege zu leiten, dafür den Rahmen zu setzen. Wir können regionale Verständigungen durchführen. Wir können eine Reihe von linken Zukunftsdialogen ansetzen. Denkbar wäre auch eine Befragung der Neumitglieder zu ihren Motiven und Ansprüchen. Wichtig ist mir, dass es ein Mix aus Austausch über Praxiserfahrungen und Programmatik wird. Zu diesen Debatten können wir auch Expert*innen aus den Feldern der Wahlforschung, der Sozialverbände, der Gewerkschaften, der Entwicklungshilfe hinzugewinnen.

Im Rahmen dieser gemeinsamen Debatte können wir auch die strittigen Fragen debattieren. Alle sind herzlich eingeladen, dort ihre Punkte und Erfahrungen einzubringen.

Ich meine damit auch ganz ausdrücklich einen Punkt, den Oskar in seinem jüngsten Beitrag aufgemacht habe. Oskar meinte, dass wir in unseren bisherigen Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt hätten. Er meinte, dass unsere Haltung offener Grenzen ein Widerspruch zu Fragen sozialer Gerechtigkeit sei. Ist das wirklich so? Ich habe dazu eine eindeutige Haltung, für die ich voller Energie eintrete.

Wenn ich mal abziehe, was an seinem Beitrag schlichtweg nur ein unfaires Foul gegen eine Partei im Wahlkampf war, wenn ich mich der Kontroverse in Brechtscher dialektischer Manier nähere, dann kann uns auch dieser Beitrag voranbringen. Als eine Antithese zur These, deren Debatte uns der Synthese näher bringt und damit Erkenntnisfortschritt bedeutet. Was wäre – um also den Punkt, den Oskar in der Sache macht, zu Ende zu denken – ein linkes Einwanderungsgesetz?

Wir haben also einiges zu diskutieren. Aber wir sollten uns dabei auf einen Grundsatz verständigen: Wenn Positionen, die wir nach langen Debatten und demokratischen Prozessen im Wahlprogramm getroffenen haben, strittig gestellt werden sollen, dann muss das in einem geordneten Verfahren passieren. Nicht dadurch, dass diejenigen, die die gemeinsamen Beschlüsse vertreten, angegriffen werden.

Was wir zu klären haben, sollten wir z.B. in unseren Zukunftsdialogen besprechen. Aber wir sollten es nicht über den Axel-Springer-Verlag oder andere Qualitätsmedien austragen.

Noch ein Wort zu meinen Ambitionen: Ich möchte sein, was ich bin: Parteivorsitzende. Ich mache das sehr gerne und sehe hier meinen Platz. Und ich engagiere mich voller Energie sowohl für meine Überzeugungen, wie für die Positionen, auf die wir uns in demokratischen Prozessen verständigt haben.

Dabei orientiere ich mich am Ansatz der verbindenden und zugleich offenen Partei. Unter verbindender Partei verstehe ich, dass wir uns nicht daran beteiligen, die ohnehin fragmentierten Milieus und Schichten der Beherrschten gegeneinander auszuspielen. Verbindende Partei meint vielmehr, die gemeinsamen Interessen der Beherrschten in den Mittelpunkt zu stellen und gemeinsame Handlungsperspektiven zu eröffnen.

Innerparteilich bedeutet die verbindende Partei auch eine offene Partei, die die verschiedenen regionalen Erfahrungen zusammenbringt. Gerade dafür ist es wichtig, dass wir Raum für kontroverse Debatten haben, die dann in verbindliche demokratische Beschlüsse münden. Demokratische Positionierungen, die dann von den Gewählten auch entsprechend vertreten werden. Offenheit in der Geschlossenheit. Das ist es, was ich von uns allen erwarte und dafür trete ich unerschütterlich ein. Dafür streite ich und dafür lasse ich auch mit mir streiten.

Ich bin sehr transparent damit umgegangen, dass ich gern erneut als Parteivorsitzende antreten möchte. Wer mir das streitig machen will, der soll aufstehen und es sagen. Dann ist es klar und dann tragen wir das transparent und demokratisch aus. Aber man soll aufhören, mich anzugreifen, indem Fake-News zu meinen Ambitionen in die Medien lanciert werden. Sie sind nicht wahr und sie werden auch nicht wahrer, wenn sie immer wieder behauptet werden. Punkt und Ende der Durchsage.

Zum Abschluss möchte ich den Blick noch mal auf die gesellschaftliche Situation richten: Nicht nur in Niedersachen wird gewählt. Auch in Österreich. Es wird eine wichtige Wahl für Europa. Denn alles, was wir hier unter uns diskutieren, ist ja schon längst eine Frage für alle Linken in Europa. In Österreich ist es gut möglich, dass es mit der ÖVP und FPÖ zwei Wahlsieger geben wird, die danach die rechteste Regierung bilden könnten, die es seit dem Ende des Nazifaschismus und der Wiederbegründung der unabhängigen Republik Österreich gibt. Ein Regierungsbündnis von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache würde in Deutschland ungefähr einer Koalition des CSU-Rechten Markus Söder mit Bernd Höcke von der AfD entsprechen.

Im Herbst 2018 wird in Hessen und in Bayern gewählt. In Hessen hatten wir bei der Bundestagswahl ein richtig gutes Ergebnis und auch in Bayern haben wir stark abgeschnitten. 2019 wird in Sachsen gewählt und die AfD könnte zur stärksten Partei werden. Für 2021 kann niemand auf Bundesebene eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD mit Sicherheit ausschließen.

Wir haben also keine Zeit. Nutzen wir sie. Ich danke euch, dass ihr mir zugehört habt. 

Katja Kipping