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Julia Wiedemann

Das verloren gegangene Vorbild

Geht es um den arabischen Frühling von 2011 und um die Frage, was davon übrig blieb, fällt der Blick auf Tunesien, das oft als Beispiel hervorgehoben wird für ein Land, in dem der Übergang von einer Diktatur eine Demokratie gelingen könnte. Doch was lange Hoffnung machte, entwickelt sich düster. Die erste Runde der Präsidentschaftswahl am 15. September lässt fürchten, dass das Blatt zum Schlechteren wenden könnte. Denn mit Nabil Karoui und Kaïs Saïed konnten sich zwei Erzkonservative Kandidaten gegen 24 weitere Kandidat*innen durchsetzen.

Die erste Runde gewann der konservative Jurist Kaïs Saïed, der als unabhängiger Kandidat antritt mit ca. 18,4 Prozent der Stimmen. Er war mit homophoben Äußerungen aufgefallen und spricht sich unter anderem für die Einführung der Todesstrafe aus.

 

Sein Gegner in der Stichwahl ist Nabil Karoui, der die Stimmung im Land auszunutzen weiß.

Denn in der allumfassenden Krisenstimmung macht sich Perspektivlosigkeit breit, die ein guter Nährboden ist für Populismus und Rückwärtsgewandtheit. Nabil Karoui ist ein Medienmogul, der auch als tunesischer Berlusconi bezeichnet wird. Er gründete zusammen mit seinem Bruder den tunesischen Fernsehsender Nessma TV. Seine Kandidatur ist umstritten, denn ihm werden Geldwäsche und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Seit Ende August sitzt er dafür sogar im Gefängnis. Dennoch: Er hat in der ersten Runde knapp 16 Prozent der Stimmen geholt und sich damit für die Stichwahl qualifiziert. Er und seine frisch gegründete Partei Qalb Tounes („Herz Tunesiens“) sehen in der Inhaftierung den Versuch der Regierung, ihn mundtot zu machen und sprechen von faschistischen Methoden.

 

Die islamistischen Ennahda, die zum ersten Mal seit der Revolution einen eigenen Kandidaten aufstellte, gehört hingegen nicht zu den Siegern. Ennahdas Kandidat Abdelfattah Mourou ist Vizepräsident des Parlaments und enger Berater von Gannouchi blieb mit nur knapp 13 Prozent der Stimmen erfolglos. Er gilt als Vertreter des gemäßigten Flügels in der islamistischen Partei, wird aber vor allem von Linken und Liberalen sehr skeptisch betrachtet und als Wolf im Schafspelz angesehen.

 

Ursprünglich war die Präsidentschaftswahl erst für November vorgesehen, doch der Tod des bisherigen Präsidenten Béji Caïd Essebsi Ende Juli machte es notwendig, gemäß Verfassung die Wahl vorzuziehen. Wann der Stichwahl abgehalten werden soll, ist noch nicht bekannt. Doch am 6. Oktober folgt die Wahl der Vertreter*innen des Parlaments, der sogenannten Volksrepräsentantenkammer und auch diese Wahl wird spannend.

 

Zuletzt hatten mit Essebsi als Präsident und mit der Partei Nida Tounes („Ruf Tunesiens“), welche die Mehrheit im Parlament inne hatte, Kräfte das Sagen, die als säkular und demokratisch gelten, zugleich aber unter dem Druck von Weltbank und EU die Neoliberalisierung des Landes voran getrieben haben. Der Wirtschaft des Landes geht es nicht gut. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 15 Prozent höher als unter Ben Ali, bei der Jugendarbeitslosigkeit sind es sogar 35 Prozent. Viele junge Menschen verlassen deshalb Tunesien.

 

Die wirtschaftliche Stagnation geht mit einer politischen Stagnation einher. Fünf Jahre seit Einführung der Verfassung 2014 sind vergangen, doch viele der Institutionen, die nach der Revolution vorgesehen waren, sind nicht eingerichtet worden. Der oberste Gerichtshof zum Beispiel existiert nur provisorisch, da es nicht gelungen ist, mit der nötigen Parlamentsmehrheit die Anzahl der vorgesehenen Richter*innenposten zu besetzen. Es gab seit der Revolution keine Reform des Staatsapparates, keine Reform der Justiz, keine Reform der Polizei, des Militärs oder der Verwaltung. Korruption ist noch immer weit verbreitet, da auch hier keine nennenswerten Reformen umgesetzt wurden. Die Staatsschulden und das große Haushaltsdefizit lähmen die Entwicklung Tunesiens.

 

Nida Tounes, die bei den letzten Wahlen noch auf 37 Prozent der Stimmen gekommen war, ist tief gespalten. Zwischen Päsident Essebis und dem bisherigen Premierminister Youssef Chahed kam es zu Konflikten, auch kritisierten Abgeordnete die Parteiführung durch den Präsidentensohn Hafedh Caid Essebsi und verließen schließlich die Fraktion. Mit diesen gründete Youssef Chahed eine neue Partei namens Tahya Tounes („Es lebe Tunesien“), die in Umfragen weit vor Nida Tounes liegt. Auch Chahed gehört zu den insgesamt 26 Kandidaten für das Präsidentenamt.

 

Auch die Linken in Tunesien sind gespalten. Im Streit über die Frage der Präsidentschaftskandidatur entzweite sich die Front Populaire, das 2012 gegründete Bündnis mehrheitlich linker Parteien, das mit 15 Abgeordneten eine eigene Fraktion im Parlament stellen konnte. Während die Tunesische Arbeiterpartei (Parti des Travailleurs Tunisiens, PTT) Hamma Hammami als Kandidaten der Front favorisierte, sprachen sich andere Gruppen für Mongi Rahoui aus. Dieser Konflikt führte zum Austritt mehrerer Abgeordneter aus der Fraktion, die sich als eigene Gruppe im Parlament formierten, während die verbliebenen sechs Mitglieder ihren Fraktionsstatus verloren (mind. 7 Sitze nötig). Die Auseinandersetzungen wurden teilweise in aller Öffentlichkeit und mit scharfen Worten ausgetragen begleitet von einem Streit darum, welcher Teil nun den Namen „Front Populaire“ tragen dürfe.

 

Der eigentliche Konflikt hinter dem Streit um Personal- und Machtfragen liegt tiefer. Schon in Zeiten der Diktatur gab es im linken Lager Auseinandersetzungen darum, ob man sich – wenn auch nur zum Schein – mit dem Regime verbünden dürfe, um ein Erstarken der Islamisten zu verhindern, oder ob man im Gegenteil sich den Islamisten anschließen müsse, um das Regime zu Fall zu bringen. Eine Auseinandersetzung, die nach der Revolution fortdauerte. Eine weitere Konfliktlinie innerhalb der tunesischen Linken ist dieselbe, die alle Linken seit dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus betrifft: die Frage nach der Transformierbarkeit der sozialistischen Idee. Wie lassen sich frühere Ideologien und Vorstellungen verändern und anpassen, ohne sich zu sehr anzupassen und Teil des Systems zu werden? So unterschiedlich die Antworten ausfallen, so bunt ist auch die linke Landschaft in Tunesien. Neben den beiden mehr oder weniger tradidtionell marxistisch ausgerichteten Parteien PTT und Watad, aus der auch Mongi Rahoui stammt, gibt es etliche weitere linke Parteien, auch solche, die aus unterschiedlichen Gründen schon zuvor nicht am Projekt der Front Populaire beteiligt waren und nun in unterschiedlichen Konstellationen, aber allesamt ohne Erfolgsaussichten antreten. Diese Fragmentierung wird verhindern, dass relevante linke Kräfte im Parlament vertreten sein und den kommenden Kräften der Reaktion und des Neoliberalismus etwas entgegensetzen werden, mit welchem Gesicht auch immer diese auftreten.


Julia Wiedemann ist Referentin im Bereich Internationale Politik in der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE und arbeitet zum Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten und Türkei.