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Katja Kipping

Erinnern, um zu widerstehen!

Rede der Parteivorsitzenden Katja Kipping auf der Veranstaltung der Partei DIE LINKE zum 80. Jahrestag der Machtübernahme des Faschismus in Deutschland

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Gäste!

Es ist kein schöner Anlass, aus dem wir uns zur heutigen Veranstaltung zusammenfinden. Dennoch möchte ich Euch und Sie recht herzlich begrüßen und mich für das Kommen bedanken.

Mein besonderer Dank gilt den Künstlerinnen und Künstlern. Sie sind ein wichtiger, ja ein tragender Bestandteil unserer Veranstaltung.

Eine Arbeit des Regisseurs Alexander Stillmark und des Komponisten Georg Katzer hat uns soeben auf beeindruckende Weise auf den Abend eingestimmt. Herzlichen Dank, auch an die Darstellerinnen und Darsteller.

80 Jahre ist es her - etwa ein Menschenleben lang - dass Deutschland in ein Kapitel seiner Geschichte eintrat, das bis heute spürbare Wunden hinterlassen hat - hier und in der ganzen Welt.

Um sich und der Welt jene Wunden zu schlagen, hat Deutschland gerade einmal zwölf Jahre gebraucht.

"Faschismus bedeutet Krieg!", diese Parole der Arbeiterbewegung hat sich nach dem 30. Januar 1933 bitter bewahrheitet.

Umso schwerer wiegt die Verantwortung derer, die dem Faschismus den Weg zur Macht geebnet haben und ihm diese schließlich auch übertrugen.

Ja, das Agieren der politischen Rechten und Konservativen damals stellt den Begriff "Machtergreifung" in Frage. Man kann sagen: Hier wurde Macht übergeben!

Das zeigen allein ein Blick auf das Abstimmungsverhalten der konservativen Parteien zum Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 im Deutschen Reichstag und ein Blick auf die Begründung der Zentrumspartei für ihre Zustimmung zu eben jenem Gesetz.

Hindenburg, die Konservativen und Teile der Wirtschaft sahen in den Nazis das Instrument, die Krise autoritär zu überwinden und mit allen Mitteln gegen die politische Linke vorzugehen.

Nicht die angeblichen "Extreme" haben die Demokratie beseitigt, sondern die politische Rechte wollte sich des Faschismus bedienen.

Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, hat den 30. Januar 1933 als "Epochendatum des 20. Jahrhunderts" bezeichnet und gleichzeitig geklagt, das Datum sei in der Erinnerungskultur zu einem kalten Gedenktag geworden.

Ich finde, wir sollten diese mahnenden Worte aufgreifen. Für uns sollte der 30. Januar auch Anlass sein, über die Brüchigkeit demokratischer Errungenschaften nachzudenken.

Schon deshalb, weil sich in der Vergangenheit die Geringschätzung der angeblich "nur" bürgerlichen Demokratie durch Kommunisten als schwerer Fehler erwies. Wir haben unsere Lehren daraus gezogen.

Es geht bei diesem Gedenktag nicht nur um den Blick in eine ferne Vergangenheit, sondern auch um eine Mahnung für unser Handeln hier und jetzt. Das zeigen die Mordserie des NSU sowie die alltägliche Gewalt von rechts.

Für uns ist der 30. Januar insofern auch ein Anlass, um deutlich zu sagen: Antifaschistischer Widerstand und das Engagement gegen Nazis ist nicht nur etwas für die Geschichtsbücher, sondern eine Aufgabe von aktueller Brisanz. Auch heute gilt es, sich den Nazis in den Weg zu stellen.

Solidarisch grüßen möchte ich deshalb von dieser Stelle aus unseren Genossen und Mitarbeiter Tim Herudek.

Für Tim begann das Jahr mit einem Schnellkurs in Sachen Dresdner Justiz. Er wurde vor rund zwei Wochen für sein Engagement gegen Europas größten Nazi-Aufmarsch zu fast zwei Jahren Gefängnis verurteilt - ohne Bewährung und ohne Beweise für die ihm vorgeworfenen Straftaten.

Dem Staatsanwalt reicht dies übrigens nicht. Er will in Revision gehen und die Strafe auf zweieinhalb Jahre erhöhen.

Sachsen ist ein trauriges Beispiel für das völlige Versagen der herrschenden Politik in der Auseinandersetzung mit faschistischer Ideologie.

Über 20 Jahre lang hat man hier die Augen verschlossen, hat nicht wahrnehmen wollen, wie sich vor allem auf dem Lande Neonazi-Strukturen prächtig entwickelten.

Über 20 Jahre lang hat die Landesregierung die Augen davor verschlossen, dass ganze Dörfer, ganze Stadtteile unter die kulturelle Hegemonie der Neonazis kamen.

Und nun bestraft man die, die sich damit nicht länger abfinden wollten. Man zerrt sie vor Gericht und verurteilt sie.

Gründet man in Sachsen hingegen eine kriminelle Vereinigung, gibt ihr den Namen eines berüchtigten SA-Sturms aus der Nazizeit, macht sich der Sachbeschädigung und der schweren Körperverletzung schuldig, kommt man mit Bewährungsstrafen davon.

Jüngst geschehen in Dresden - am selben Tag, im selben Gerichtshaus, in dem auch Tims Urteil gesprochen wurde. Es ist eine Schande!

Tim arbeitet im Karl-Liebknecht-Haus, gleich hier um die Ecke. Und das Karl-Liebknecht-Haus - auch daran möchte ich heute erinnern - war den Nazis als Sitz des Parteivorstandes der KPD ein besonderer Dorn im Auge.

Vor diesem Haus demonstrierten am 25. Januar 1933 rund 130.000 Menschen gegen die faschistische Gefahr. Es war die letzte legale Demonstration der KPD.

Einer der Demonstranten war ein damals 16-jähriger Gymnasiast. Die Rede ist von dem im vorigen Oktober verstorbenen Historiker und Marxisten Eric Hobsbawm. In einem Interview im Jahre 2009 erinnerte er sich:

"Wir sangen Lieder wie 'Der kleine Trompeter', auch ein Lied über die Bauernkriege, die 'Internationale', es war da ein kollektives Hochgefühl, Massenekstase trotz Zukunftsangst."

Wie berechtigt diese Angst doch war.

Einen Monat später wehte auf dem Haus die Hakenkreuzfahne, wurden Gegner der Nazis hier von SA-Leuten verhört und misshandelt, der Platz vor dem Haus nach Horst Wessel benannt und zu einem Wallfahrtsort der Nazis umgestaltet.

Es begannen zwölf Jahre blutigen Terrors gegen Andersdenkende, Andersglaubende, Anderslebende und schließlich ein Raubkrieg, der in die Zerstörung von weiten Teilen Europas führte.

Von völkischer Raserei aufgehetzt, vollbrachten Deutsche schließlich - bürokratisch untersetzt und industriell betrieben - den größten Völkermord der Geschichte.

Mensch zu sein allein zählte nichts mehr im Deutschland jener Zeit. Es ging einzig noch um den Nutzwert menschlichen Lebens: als Arbeitskraft, als Soldat, als Gebärende, als Träger von sogenanntem "gesunden Erbgut".

Allen, die nicht in diese Kategorien fielen, wurde das Recht auf ein Leben in Würde abgesprochen.

Und ich denke, hier kommen wir auch den Ursachen für das Grauen näher: der Einteilung von menschlichem Leben in nützlich und unnütz.

Und so gedenken wir heute der ermordeten jüdischen Menschen ebenso wie der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der hingemordeten Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, der versklavten Menschen aus den von Deutschland besetzten Ländern, der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer und der Millionen aus aller Welt, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben ließen.

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Gäste, wir alle, die wir da sind -und auch die, die noch kommen werden -, haben ein Recht darauf, in Würde da zu sein. Völlig gleich, wer uns wo geboren hat. Völlig gleich, welche Fähigkeiten wir haben. Völlig gleich, ob sich unsere Fähigkeiten in Geld umsetzen lassen oder nicht.

Gerade weil der heutige Gedenktag nicht nur ein Blick auf Vergangenes sein sollte, habe ich mich entschieden, diese Rede mit dem Zitat eines bekannten Liedrefrains abzuschließen.

Vor drei Jahren baten mich die Eltern eines an einer schweren Krankheit gestorbenen jungen Dresdner Genossen, die Trauerrede für ihn zu halten. Dies habe ich getan - mit einem furchtbar schweren Herzen, denn ich kannte ihn gut und mochte ihn sehr.

Als musikalische Begleitung hatten sich seine Eltern eben jenes Lied von Hannes Wader gewünscht, in dem es heißt:

Leben einzeln und frei wie ein Baum und dabei
Brüderlich wie ein Wald.
Diese Sehnsucht ist alt.
Sie gibt uns Halt in unserem Kampf.
Gegen die Dummheit, den Hass, die Gewalt.
Leben einzeln und frei wie ein Baum und dabei geschwisterlich wie ein Wald.

Liebe Gäste, liebe Genossinnen und Genossen, Ich weiß gar nicht, ob man diese Vorstellung allein Sozialismus nennen kann.

Aber eines weiß ich: Wenn es uns gelänge, diese Zeilen in den Köpfen der Menschen fest zu verankern, dann müssten wir keine Angst mehr haben vor einem neuen Faschismus.