Zum Hauptinhalt springen
Ältestenrat

Ostdeutsches Zukunftsprogramm

Anstoß und Gedanken des Ältestenrates

Die Teilung Deutschlands dauerte vier Jahrzehnte, der Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 Grundgesetz liegt bald drei Jahrzehnte zurück - geblieben ist eine Zweiheit zwischen der alten BRD und der alten DDR mit einem Einigungsvertrag, der nicht eingehalten wurde und nicht eingehalten ist.

Jährlich hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen Einheitsbericht zu geben, der zwischen Schönfärberei und harten Realitäten eines schon stabilen Rückstandes Ostdeutschlands, einer Missachtung von Tatsachen bis zum Verdecken rechtlicher Verstöße, wie dem Handeln der Treuhand, und einer Geschichtsschreibung und staatlich geförderter Erinnerungskultur sucht, die Raum für Entwicklung von Hass, Verbreitung faschistischer Elemente in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft reicht. Dieser Prozess hat ein unterschiedliches Wertebewusstsein in den ostdeutschen Ländern befördert und vertieft. Die Respektverweigerung, fehlende Gerechtigkeit und geschichtsloses staatliches Handeln erfasst auch die jüngeren Generationen, wie sie sich z. B. an einer fehlenden Teilnahme Ostdeutscher im Kreis der Führungskräfte von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zeigt. Ohne die Überwindung der sich verbreitenden "Zweiheit" wird es keine Vereinigung, auch im nächsten Jahrzehnt nicht, geben.

Vom "Versagen" der Politik zu sprechen, erfasst den historischen Prozess der vergangenen drei Jahrzehnte nicht. Das Ziel der herrschenden Politik war darauf gerichtet mit den Grundsätzen "Privatisierung vor Sanierung", und "Rückgabe vor Entschädigung" den Interessen des westdeutschen Kapitals zu entsprechen. Das ist mit der Tatsache belegt, dass es 85 Prozent des Volkseigentums der DDR übernommen hat, 10 Prozent ausländisches Kapital und nur 5 Prozent sind im Besitz von ostdeuschen Kleinstunternehmen verblieben. Das Handeln der Treuhand nach der Aufhebung ihres Gründungsauftrages und der Ermordung Rohwedders wurden zu einem Prozess der Zerstörung der DDR-Wirtschaft, der bis zu der noch immer nicht aufgearbeiteten Wirtschaftskriminalität reicht.

Wenn heute bei der Teilnahme der LINKEN an Regierungen in Ostdeutschland von Politikwechsel, der angestrebt wird, die Rede ist, dann steht dem der im Realkapitalismus anhaltende und sich verschärfende Gegensatz von wachsendem Reichtum Weniger und wachsender Armut Vieler diametral entgegen.

DIE LINKE hat als Partei ihre historischen Wurzeln in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, zu denen sie sich bekennen müsste und kommt mit ihrer Entwicklung aus Ost- wie aus Westdeutschland, ein Prozess, den sie vertiefen sollte.

Das einst von Ralf Dahrendorf angekündigte "sozialdemokratische 21. Jahrhundert" ist nicht eingetreten, im Gegenteil, die europäische Sozialdemokratie befindet sich im politischen Zerfall. Wenn die Vereinten Nationen das Werk von Karl Marx "Das Kapital" zum Weltkulturerbe erklärt haben, sollte DIE LINKE Mut zeigen, ein sozialistisches Profil zu bewahren.

Noch hat DIE LINKE eine Chance, nicht nur von Klassenpolitik zu reden und zu schreiben, sondern sie gerade jetzt zum Gegenstand ihres politischen Eintretens und Handelns zu entfalten. Im Jahr 2019 wird sich zeigen, ob DIE LINKE den historischen Platz, der ihr mit den Wahlen für die ostdeutschen Landtage übertragen ist ausfüllen oder versagen wird. Der Ältestenrat hat auf dem Leipziger Parteitag vorgeschlagen, ein "Linkes Zukunftsprogramm Ostdeutschland" auszuarbeiten und wiederholt bekundet, im Rahmen seiner Möglichkeiten dabei mitzuwirken. Was wir hier als Ältestenrat vorlegen, kann nur ein Anstoß dafür sein. Ob und wie die Führungsorgane der Partei und die Fraktionen der LINKEN im Bund und den Ländern ihn aufgreifen, welche Beachtung er in politischen Debatten der Partei und in linken Bewegungen findet, wird sich zeigen. Die Wählerzustimmung in den ostdeutschen Ländern zeigt Zeichen einer Art "Abnutzung" der Rolle der Partei DIE LINKE. Frei von Anpassung und mit klaren Zielen und Einsatz für die Interessen der Ostdeutschen ist die Herausforderung. Die Gewerkschaft ver.di hat mit dem Tarifvertrag für das Flugplatzpersonal ein richtiges Zeichen gesetzt.

Die im Bundestag vertretenen Parteien greifen für ihre politischen Interessenverschiedene Probleme in und für Ostdeutschland in wachsendem Maße in der Öffentlichkeit auf. Wir können als Partei DIE LINKE nur Stabilität bewahren und wachsende Zustimmung gewinnen, wenn wir uns ausgehend von einer kritischen Analyse ganz entschieden und konsequent mit allen unseren Möglichkeiten für die Interessen und Fragen der Ostdeutschen engagieren und mit allen Kräften einsetzen. Ziel des Projektes sollte die programmatische Forderung der Partei DIE LINKE für ein "Ostdeutsches Zukunftsprogramm" sein.

1. Stand der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse

Ein erstes Kapitel beschäftigt sich mit der konkreten wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lage in Ostdeutschland nach 29 Jahren. Dabei ist deutlich zu machen, dass die Vereinigungskrise ihren Ausdruck in einer Reihe von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fehlentwicklungen findet, die mit dem im Vereinigungsvertrag und dem Artikel 72 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerten Prinzip der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" entgegenstehen. Dazu gehören folgende:

Erstens: Die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland ist gekennzeichnet durch die anhaltende Stagnation wichtiger gesamtwirtschaftlicher Indikatoren der ostdeutschen Wirtschaft seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Eine Angleichung der Wirtschaftskraft an die des Westens gibt es nicht.

Der Anteil Ostdeutschlands am gesamtdeutschen BIP liegt unverändert bei 12 Prozent. Das ostdeutsche BIP ist z. B. 2017 um 1,9 Prozent gestiegen, das westdeutsche BIP um 2,3 Prozent.

Nach einer ersten Phase eines deutlichen Anstiegs der Produktion und der Dienstleistungen gegenüber 1991 (das Jahr, das in den Veröffentlichungen der Bundesregierung als Bezugsjahr genommen wird) gab es seit 1996 über mehr als zwanzig Jahre hinweg kein Aufholen der ostdeutschen Länder hinsichtlich der Wirtschaftskraft gegenüber den westdeutschen Ländern mehr. Hinsichtlich des BIP und Arbeitsproduktivität liegen die ostdeutschen Länder nach wie vor bei etwa 70 Prozent der westdeutschen Länder. Wichtigste Ursache dafür ist die Zerschlagung der Wirtschaftskraft der DDR (besonders auch die Zerschlagung von 140 der 145 DDR-Großbetriebe mit über 5.000 Beschäftigten).

Die negative Bilanz der Wirtschaftsentwicklung wird auch daran deutlich, dass nicht einmal der Rückstand der ostdeutschen Wirtschaft im Jahre 1989 gegenüber der DDR übertroffen wird. Der Bezugspunkt zum Jahr 1991 ist desorientierend, weil in diesem Jahr die ostdeutsche Wirtschaft völlig darniederlag und gegenüber 1989 auf kaum mehr als 30 Prozent abgesunken war. Das "Wirtschaftswunder" der Jahre 1992 bis 1995 ergibt sich vor allem daraus, dass die Position "Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleistungen" in dieser Zeit auf 690 Prozent gegenüber dem eigentlichen Ausgangsniveau 1989 anstieg.

Die Wirtschaftspolitik der Regierenden hatte besonders in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands verheerende und anhaltende wirtschaftliche und soziale Folgen hinsichtlich Arbeitsplätze, Verkehrsverbindungen, Bibliotheken, Jugendklubs, Kindergärten usw.

Zweitens: Als Folge der wirtschaftlichen Schwächung hängen die ostdeutschen Bundesländer unverändert am Tropf der finanziellen Stützung durch wirtschaftsstarke westdeutsche Länder und durch den Bund.

Die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer zu lebensfähigen Regionen mit einem selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung ist in weite Ferne gerückt. Ohne die finanziellen Zuwendungen aus Westdeutschland wären diese Länder nicht lebensfähig.

Die Einnahmen der ostdeutschen Länder lagen 2017 bei 68,8 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts. Alle ostdeutschen Länder stehen hinter dem Saarland als dem einnahmeschwächsten westdeutschen Bundesland. Im Bundesfinanzausgleich sind sie so allesamt "Nehmerländer". Im Jahre 2017 erhielten sie aus dem Finanzausgleich 7,7 Milliarden Euro oder 69 Prozent aller Mittel, die an finanzschwächere Länder gingen. Vom Bund bekommen die ostdeutschen Länder z. B. im Rahmen der teilungsbedingten Sonderleistungen 2018 und 2019 4,9 Milliarden Euro.

Im Jahre 2019 wird der Länderfinanzausgleich in seiner bisherigen Form abgeschafft und das System der Zuwendungen des Bundes stark verändert. Das Thema Finanzierung der ostdeutschen Bundesländer wird damit 2019 zu einem zentralen Thema der Politik.

Drittens: In Ostdeutschland müssen die Lohnabhängigen drei Stunden länger arbeiten und bekommen weniger Lohn. Eine Tarifmauer trennt den Osten weiterhin vom Westen, wobei auch im Westen die Tarifbindung dramatisch abnimmt.

Der durchschnittliche Bruttoverdienst eines ostdeutschen Vollzeitbeschäftigten betrug im Jahre 2017 mit 2.690 Euro etwa 81 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes eines westdeutschen Vollzeitbeschäftigten. Im Jahre 2000 lag der Anteil der Betriebe mit Tarif in Westdeutschland bei 49 Prozent, im Osten bei 29 Prozent. Im Jahre 2017 waren es 29 und 19 Prozent. Seit dem 1. Januar 2015 gibt es, wie von der LINKEN seit langem beharrlich gefordert, erstmals einen Mindestlohn für ganz Deutschland. Das war eine positive Maßnahme. Daraufhin erhöhten sich in Ostdeutschland die Stundenlöhne um etwa sieben Prozent.

Im Vergleich mit Westdeutschland sind Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse in den ostdeutschen Ländern nach wie vor deutlich größer. Dabei ist die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland mittlerweile zurückgegangen. Dennoch ist sie immer noch 1,8 Prozentpunkt höher als in Westdeutschland. Wenn man das westdeutsche Durchschnittseinkommen zu Grunde legt, gibt es in Ostdeutschland etwa doppelt so viel Niedriglöhner wie in Westdeutschland.

Gegenüber der Zahl von neun Millionen Erwerbstätigen im Jahre 1989 ist die Zahl der Erwerbstätigen bis heute um etwa 15 Prozent zurückgegangen. Etwa sieben Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ostdeutschland arbeiten im Westen. Der Osten ist nach wie vor eine Abwanderungsregion. Vor allem junge qualifizierte und weibliche Personen ziehen nach Westdeutschland. Folge ist ein Fachkräftemangel im Osten und eine verstärkte Überalterung der Bevölkerung.

Viertens: Die ostdeutschen Renten liegen unter den Westrenten. Da die Angleichung der Renten nach dem Einigungsvertrag an die Lohnentwicklung gebunden ist, hinken auch die Renten im Osten hinter denen im Westen hinterher.

Im Zusammenhang mit der Entwertung der Lebensleistung der Ostdeutschen wurden zahlreiche in der DDR erworbene Rentenansprüche in Zusatz- und Sonderversorgungssystemen gestrichen. Davon sind heute noch mindestens eine halbe Million Bürgerinnen und Bürgern betroffen. Hinzu kamen Strafrenten für Funktionsträger der DDR, von denen noch etwa 100.000 leben. Die Gesetzesinitiativen der Bundestagsfraktion der LINKEN zur Beseitigung dieses "Unrechts per Gesetz" sind neu einzubringen.

Mit dem Rentenüberleitungsabschlussgesetz vom 1. Juli 2017 werden nunmehr die Rentenwerte der Ostrenten schrittweise bis zum Jahre 2024 an die der Westrenten angepasst. Der aktuelle Rentenwert Ost liegt derzeit bei 95,82 Prozent des Westwerts.

Fünftens: Folge der Verschleuderung der 12.354 volkseigenen Betriebe, der 465 Staatgüter und der 3,3 Millionen Wohnungen (plus Verkehrsbetriebe, Versicherungseigentum und Handelsorganisationen) durch die Treuhand ist die anhaltende Beherrschung der ostdeutschen Wirtschaft durch westdeutsche Eigentümer.

Ein riesiges Volksvermögen von etwa 600 Milliarden D-Mark zerrann "im Zeitraffer zu Nichts" (G. Mumme, Wem gehört der Osten? Die Woche vom 6. Juni 1997). Westdeutsche Kapitaleigner übernahmen etwa 80 Prozent der ostdeutschen Wirtschaft.

Heute werden fast alle Zeitungen und etwa 25 Prozent der Unternehmen von Westdeutschen geführt. 60 Prozent der Immobilien sind in westdeutscher Hand. Etwa zwei Drittel der leitenden Angestellten in den 100 größten ostdeutschen Unternehmen sind Westdeutsche.

Sechstens: Einer der großen Skandale der Vereinigung ist der sogenannte Elitentransfer, d. h. die dauerhafte Besetzung der Führungspositionen im Staat mit Westdeutschen. In Gesamtdeutschland sind 1,7 Prozent der Führungsjobs mit Ostdeutschen besetzt.

Bis 1992 besetzten entsprechend den Festlegungen über "Verwaltungshilfe" in Artikel 15 Abs. 2 des Einigungsvertrages 35.000 Beamte und Politiker die staatlichen und politischen Schlüsselpositionen in den ostdeutschen Ländern. Sie brachten zugleich "ihr Netzwerk" mit. Die Verstetigung des dominierenden Einflusses der Westdeutschen wurde zum Normalzustand.

Der Anteil der Ostdeutschen in Ostdeutschland an der Bevölkerung liegt bei 87 Prozent; der Anteil z. B. der ostdeutschen Richter bei 13,3 Prozent, der Anteil ostdeutscher Manager liegt bei gerade einmal 33 Prozent. Etwa 90 Prozent der neu berufenen Professoren an den ostdeutschen Universitäten kommen aus Westdeutschland. Von den 35 zwischen 1990 und 2004 tätigen Staatssekretären im Freistaat Sachsen kamen 85,3 Prozent aus Westdeutschland (Thüringen 74,4 Prozent von 42).

2. Fehlentwicklungen unter Missachtung des Einigungsvertrages

Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 war kein Vertrag gleichberechtigter Partner, sondern ein Eingliederungsvertrag, ein Diktat der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR. Er war ein "Fahrplan" für die ökonomische und politische Konterrevolution. Er ist so auch in seiner Gesamtheit ungeeignet, etwa zur "Fahne" bei der Verteidigung ostdeutscher Interessen zu werden.

Aber es gibt eine Reihe von Bestimmungen dieses Vertrages (bzw. weiterer juristischer Dokumente auf deren Grundlage der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik vollzogen wurde), die im Vereinigungsprozess verletzt wurden. Sie sind neben dem Grundgesetz Teil der rechtlichen Grundlage im Kampf gegen diese Verletzungen. Das betrifft im besonderen Maße das in Artikel 72 Abs. 2 Grundgesetz fixierte Staatsziel der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse". Aber es betrifft auch die Friedensfrage, die Verfassungsfrage, das im Einigungsvertrag formulierte verbriefte Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen und die Sanktionierung der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage.

Die Präambel des Einigungsvertrages bekennt sich zu "Frieden und Freiheit". Konkret wird zum Friedensprinzip (wie es auch in Artikel 26 Grundgesetz verankert ist) im Vertrag der BRD und der DDR sowie der vier ehemaligen Besatzungsmächte ("Zwei-plus-Vier-Vertrag"), der am 12. September 1990 unterzeichnet wurde und am 15. März 1991 in Kraft trat, Stellung genommen. Im Artikel 2 dieses Vertrages bekräftigen beide deutsche Staaten "ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird".

Dieser Vertrag ist mittlerweile aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden, weil er der Kriegsführung der Bundesregierung in aller Welt (der Beteiligung an dem Jugoslawien-Krieg, den Rüstungsexporten in Kriegsgebiete und der aktuellen massiven Aufrüstung der Bundeswehr, gerichtet ganz offenkundig gegen die Russische Föderation) entgegensteht. Es ist Aufgabe der LINKEN, in den Debatten um die Militarisierung Deutschlands beständig an diesen Vertrag zu erinnern.

Der Einigungsvertrag sanktionierte entgegen dem Wortlaut und dem Sinn von Artikel 146 Grundgesetz, der im Falle einer Vereinigung die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vorsah, die in den Jahren 1990 ff. betriebene Politik der Verfassungsverweigerung. Im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat kam es nur zu einigen wenigen Änderungen des Grundgesetzes.

Zugleich aber setzte damals die SPD durch, dass mit dem Einigungsvertrag Artikel 146 in seiner demokratischen Substanz nicht "aufgezehrt" wurde. Der Artikel fixiert so auch heute für zukünftige Zeiten das Recht des Volkes auf Verfassungsgebung "in freier Entscheidung". Zu prüfen wäre, ob die Zeit herangereift ist, da die in ihrer Bedeutung zunehmenden demokratischen Bewegungen sich auch als Verfassungsbewegungen für soziale Grundrechte, mehr Demokratie und eine konsequente Friedenspolitik entwickeln.

In Artikel 25 Abs. 6 Einigungsvertrag wurde den "Sparern" die Möglichkeit versprochen, ihnen "zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2 : 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen" einzuräumen. Das "Gesetz zur abschließenden Erfüllung der verbliebenen Aufgaben der Treuhandanstalt" vom 9. August 1994 hat dieses Anteilsrecht beseitigt.

Von enormer Bedeutung war die Festlegung in Artikel 40 Abs. 2 Einigungsvertrag über die Übernahme der rechtlichen Regelungen, die die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 betreffen. Enteignet wurden damals insbesondere rund 14.000 Inhaber von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, darunter 7.100 Güter. Vielfältige Versuche der Alteigentümer, den hiermit begründeten Restitutionsausschluss zu beseitigen, sind gescheitert. Zugleich aber gelang es, diese Regelung auf vielfältige Weise zu durchbrechen. Es gab großzügige Entschädigungsregelungen über "Wiedergutmachungs- und Ausgleichszahlungen". Alteigentümer konnten durchsetzen, dass sie zwar nicht ihre Immobilien, aber ihre "Mobilien" zurückbekamen. Von dem Restitutionsausschluss ausgenommen wurden B-Listen mit Unternehmen, die angeblich nicht hätten enteignet werden können. Offenbar mehrere Hunderttausend "Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsansprüche" wurden genehmigt. Einer der großen Skandale der Vereinigungsgeschichte war, dass in diesem Zusammenhang etwa 70.000 Erben von Bodenreformland von den ostdeutschen Ländern entschädigungslos enteignet wurden. Mit einer Dokumentation sollte möglichst das ganze Ausmaß der Missachtung und Umgehung der Festlegung von Artikel 40 Abs. 2 Einigungsvertrag dargestellt und belegt werden.

3. Geschichtsbewusstsein und politisches Denken in Ostdeutschland

Linke Politik gegenüber Ostdeutschland schließt eine linke Erinnerungspolitik an die Vereinigungsgeschichte und an die DDR-Geschichte ein, die die Erinnerungspolitik der Regierenden (so auch in den jährlichen Berichten über den "Stand der deutschen Einheit") als Beschönigung des Vereinigungsprozesses bzw. als Kriminalisierung der DDR kritisiert.

Zu beachten ist, dass nach wie vor ein großer Teil der noch lebenden "Erlebnisgeneration" meint, dass die Einheit noch längst nicht Realität ist und eine gerechte und differenzierte Bewertung der ostdeutschen Geschichte nach 1945 und der Vereinigungsgeschichte in den Jahren 1990 ff. noch aussteht. Es sollte ein aktuelles Bild des differenzierten politisch-geschichtlichen Alltagsdenkens vermittelt werden, wie es sich aus entsprechenden Studien, aus aktuellen Umfragen und besonders auch aus jährlichen Untersuchungen der ostdeutschen Landesregierungen (Monitor-Studien) ergibt.

Sinn dieser Dokumentation ist der Nachweis, wie tief die Kluft zwischen der Erinnerungspolitik der Regierenden und dem politischen Alltagsdenken der Menschen ist.

Folgende Tendenzen sind dabei genauer zu untersuchen und zu belegen. Es gibt nach wie vor einen größeren Teil der Erlebnisgeneration, der die mittlerweile staatlich verordnete Darstellung der DDR als Unrechtsstaat und mit dem Nazifaschismus wesensverwandte Diktatur nicht mitmacht. Vor allem die gewonnenen Erfahrungen mit dem realen Kapitalismus beeinflussen die DDR-Rückschau und das heutige DDR-Bild. Etwa 50 Prozent der Befragten meinen, dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte. Etwa 25 Prozent sprechen sich für eine "Rückkehr" zum Sozialismus aus. Soziologen schätzen die Größe des noch vorhandenen "DDR-nostalgischen Milieus" auf drei Millionen.

Verschlechterungen gegenüber dem Leben in der DDR werden insbesondere darin gesehen:

  • Eine Vielzahl von sozialen Regelungen wie Kindergeld, Stipendien für alle Studierenden und sogar für die Schülerinnen und Schüler der 11. und 12. Klasse, kostenloses Gesundheitswesen, einheitliche Sozialversicherung usw. fielen ersatzlos weg.
  • Verloren gingen solidarische Arbeitsbeziehungen, soziale Gleichheit, soziale Sicherheit, die erreichte Chancengleichheit von Frauen, Vollbeschäftigung und viel an Mitbestimmung in den Betrieben.
  • Verloren ging das Faschismusverbot in der DDR-Verfassung und im politischen Leben.
  • Verloren ging das Bemühen um die Wiedereingliederung von Straffälligen. Erinnert werden sollte daran, dass es in der gesamten DDR jährlich weniger Straftaten gab als heute in einem halben Jahr in Brandenburg.
  • Bedauert wird von vielen Menschen die Beseitigung der systematischen wirtschaftlichen und kulturellen Förderung der ländlichen Regionen und von bewahrungswerten Prinzipien (s. o.) des DDR-Bildungssystems.

Zur heutigen "Ostidentität" gehört die anhaltende Verärgerung über die Ungerechtigkeiten im Vereinigungsprozess. Etwa 80 Prozent der Befragten beurteilen die Arbeit der Treuhand negativ. Nur etwa 20 Prozent meinen, dass die Einheit vollzogen ist. Nach Ansicht einer deutlichen Mehrheit gibt es noch "große Unterschiede". Ein zunehmendes Gewicht, z. T. sogar Übergewicht gewinnt in der ostdeutschen Bevölkerung der "Niveauabstand zu den alten Bundesländern" als "neue Dimension der Lebenslagebewertung".

Unter Angleichung der Lebensverhältnisse werden dabei mehrheitlich Indikatoren der Wirtschaftsentwicklung verstanden. Die Bewertung der DDR mit dem Nazivergleich bzw. mit dem Vokabular der Faschismuskritik wird von etwa zwei Drittel der Befragten abgelehnt. Mehrheitlich gibt es unter Ostdeutschen die Meinung, dass sich "Kapitalismus und Gerechtigkeit" ausschließen.

4. Ostdeutsche Zukunftskonzeption

Vierzig Jahre war Deutschland durch die Gründung der BRD in zwei Staaten geteilt. Der Einigungsvertrag wurde zur Rechtsbasis des Beitritts der DDR und der 2+4-Vertrag bot die Möglichkeit, diesen Prozess zu vollziehen. 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD gemäß Artikel 23 Grundgesetz, ist ein deutscher Staat als vereinigte Bundesrepublik Deutschland entstanden. Noch immer ist der Volksentscheid über eine vom Volk gegebene und getragene Verfassung lt. Artikel 146 Grundgesetz offen. Es bestehen Ungleichheiten, ungleiche Rechtsauslegungen, Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die nach der Wende entstanden sind. Es sind Entscheidungsfelder offen, die einem breiten Teil der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger Zukunftschancen verbauen oder nehmen. DIE LINKE wird ihre Initiative auf folgende Entscheidungsfelder richten:

1. Standortpolitik und Wirtschaftsförderung

  • Ende Kohleförderung und Ansiedlung von Industrie, Rekultivierung
  • Sicherung und Weiterentwicklung des Fahrzeugbaus und weiterer Wirtschaftskerne
  • Industriebetriebe mit Exportperspektiven
  • Sonderförderung für Klein- und mittlere Unternehmen (KMU)
  • Wirtschaftsfaktor - EU - Regionen
  • Bedingungen für Forschung und Innovation

2. Sozialpolitik

  • Rentenfragen - Angleichung der Rentenpunkte
  • Aufhebung der Ungleichheit bei der Mütterrente in Ost und West
  • Aufhebung der Ungleichheiten in der Bezahlung (z. B. Pastoren)
  • Gleiche Löhne und Beseitigung von Tarifmauern
  • Gleichheit auf den Arbeitsmärkten
  • Der Abbau nach 1990 hat 10.000 Wohnungen zerstört; Wohnungsbau und Mietenfrage

3. Entscheidungen zur Rechtslage

  • Auflösung der Bundesbehörde für die Unterlagen des MfS und Übergabe der Akten in das Bundesarchiv
  • Beendigung von Sonderüberprüfungen Ost, die auch nachwachsenden Generationen Chancen zur Teilnahme an gesellschaftlicher Verantwortung geben
  • Aufarbeitung der Ergebnisse der "Aufarbeitung - Einleitung einer neuen Forschungsphase
  • Außerordentliche Maßnahmen zur Aufdeckung der Treuhandfrage
  • Analyse der politischen Bildung und setzen neuer Maßstäbe für eine Erinnerungskultur angesichts der Rechtsentwicklungen in der EU und in der BRD

4. Achtung und Einhaltung der Forderungen und des Geistes des 2+4-Vertrages

  • Schluss mit den militärischen Übungsplätzen
  • Kein Aufmarschbereich für NATO-Kräfte gegen die vierte Nachfolgemacht des Vertrages

5. Bildungswesen und Daseinsfürsorge als gesamtdeutsche Erfahrungen

  • Schulsystem und gemeinsames Lernen
  • Polikliniken
  • Ärztliche Betreuung in ländlichen Regionen

6. Entwicklung der ländlichen Regionen

  • Analyse und Maßnahmen gegen eine Entvölkerung ganzer ländlicher Regionen nach 1990 in Ostdeutschland
  • Überprüfung der Handlungen zur Bodenreform entsprechend 2+4- Vertrag
  • Entwicklung von Programmen in den östlichen Bundesländern für den ländlichen Raum

7. Achtung und Aufschwung Ost

  • Analyse über die Verantwortungsstrukturen in staatlichen Organen, im Hochschulbereich, im Bereich der Daseinsvorsorge und Anteil Ostdeutscher in Führungsbereichen für die Aufhebung von Ungleichheiten
  • Regierungsprogramm für die Förderung und den Aufbau von Wissenschaftszentren in Ostdeutschland

8. Zukunftsaussage der Partei DIE LINKE, die ihren Platz und ihr Bestreben als sozialistische Partei in der Gesellschaft der BRD und in der Europäischen Union erklärt und ihr Handeln bestimmt.

Vorschläge für erste Maßnahmen

  1. Der Parteivorstand prüft und greift die Überlegungen des Ältestenrats für eine Initiative zur Entwicklung einer "Ostdeutschen Zukunftskonzeption" auf und legt die dafür notwendigen Maßnahmen fest.
  2. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE wird als politisches und sachkundiges Gremium fachliche Aufgaben übernehmen.
  3. Parteivorstand und Fraktion treten mit ihrer Initiative in die Öffentlichkeit.
  4. Es wird eine zeitweilige Arbeitsgruppe gebildet, deren Aufgabe es wäre:
    1. die Konzeption als politische Programmatik der LINKEN zu formulieren
    2. Vorschläge für Gesetzesinitiativen in Bund und Ländern auszulösen
    3. Anregungen für eine Parteidiskussion und Debatten in politischen Bewegungen zu geben