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betrieb & gewerkschaft

Wir sind nicht unfreundlich, sondern unterbesetzt!

Kim Lange

Können Sie mal endlich 'ne zweite Kasse öffnen? Diese Frage – mal mehr oder weniger freundlich gestellt – haben wir alle schon mal gehört, während wir in einer uns schier endlos vorkommenden Kassenschlange im Supermarkt oder Discounter anstanden. Auf der anderen Seite des Kassentresens steht ein Beschäftigter; weit und breit allein auf weiter Flur. Durch den Druck der immer länger werdenden Schlange guckt dieser kaum noch hoch, kassiert Akkord und vergisst dabei vielleicht das freundliche Lächeln oder den direkten Augenkontakt. Wer in so einem Moment in der Kassenschlange dann seinen Blick nach links und rechts schweifen lässt, stellt schnell fest, dass außer Kunden niemand sonst im Laden zu sehen ist – erst Recht kein weiteres Personal. Während die Kunden in der Kassenschlange immer ungeduldiger werden, wird der Beschäftigte, der Akkord kassiert, derweil von weiteren Kunden von der Seite gefragt, ob es das von ihnen favorisierte Produkt auch in ihrer Größe oder Lieblingsfarbe gibt. Gleichzeitig strömen Kunden aus der Anprobe zu ihm und beschweren sich darüber, dass es dort aussieht wie bei Hempels unterm Sofa. Insgesamt liegen im ganzen Laden die Klamotten auf der Erde und es solle doch mal jemand aufräumen. Nebenbei klingelt das Telefon an der Kasse Sturm, denn in der Filiale nebenan sucht ein Kunde nach einem Produkt, was dort nicht mehr vorrätig ist und der Kollege aus der Filiale ist ebenfalls allein und hat seine eigene ungeduldige Kassenschlange. Die Rufe aus der Schlange werden immer lauter und der Kollege geht dazu über, parallel an zwei Kassen zu kassieren. An einer die Barzahlungen, an der anderen die Kartenzahlung. Das sind die realen Auswüchse der deutschen „Geiz ist Geil“-Mentalität. Wir erwarten den exklusiven Kundenservice von Gucci, sind aber nur dazu bereit, H&M-Preise zu zahlen.

Geiz war noch nie geil!

Seit nunmehr zehn Jahren erleben wir die rasante Verschlechterung unserer Arbeitsbedingungen, weil das politisch so gewollt ist: Sachgrundlose Befristungen haben bei uns genauso Hochkonjunktur, wie gezwungene Teilzeit und Leiharbeit zum Preis von verlängerten Öffnungszeiten und Sonntagsarbeit. Ständig flattern Anträge von Arbeitgebern auf Einstellung bei Betriebsräten ein: Flexibel, 10 Wochenstunden und auf drei bis sechs Monate befristet, mit der Option auf Verlängerung, so lange und so oft es legal ist. Hätten sich die Beschäftigten mit Familie nicht früher überlegen sollen, ob der Handel der richtige Job für sie ist? Haben sie: Als sich viele für den Job entschieden haben, war wochentags um 18.30 Uhr Schicht im Schacht und samstags war um 13.00 Uhr Schluss. Das sind keine Erfahrungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, so waren unsere Arbeitsbedingungen zu Beginn dieses Jahrtausends.

Ständig neue Einkaufcenter laden zu immer mehr Konsum ein. Trotzdem steigt die Kaufkraft der Kunden seit Jahren nicht, denn ein Großteil der Menschen hat von Jahr zu Jahr immer weniger im Portemonnaie, bei gleichzeitig steigenden Kosten für Miete, ÖPNV oder Versicherungen. Wettbewerb im Handel findet deswegen längst nicht mehr allein über Verkaufsflächen, Produktpreise oder Werbung, sondern knallhart über Personalkosten statt. Ein Faktor dabei ist, ob die Leute Tarif- oder seit ein paar Jahren Mindestlohn kriegen, der am Ende auch nur ein Niedriglohn ist. Hinzu kommt, dass einem der beste Tariflohn nichts nützt, wenn man nur einen Vertrag über 10 Wochenstunden hat. Gleichzeitig erleben wir Filial-Kannibalismus: In der Einkaufsstraße, wo es vor fünf Jahren nur eine Filiale eines Unternehmens gab und jetzt drei, mag der Umsatz in der Straße zwar insgesamt steigen, in der alten Filiale jedoch stagniert der Umsatz oder ist rückläufig. Um aber vom stagnierenden oder rückläufigen Umsatz trotzdem weiterhin Gewinn rauszupressen, wird die Personalschraube angezogen. Gewinnmaximierung durch Nebenkostensenkung, nennen wir das zynisch. Aber eins steht fest: Immer mehr Umsatz mit immer weniger Personal ist nicht nur krank, es macht auch meine Kolleg/innen krank.

Zurück zu unserem Eingangsbeispiel: Selten bis nie kommt einer der ungeduldigen und aufgebrachten Kunden in der Kassenschlange auf die Idee, sich anstelle des Akkord kassierenden Kollegen, den Arbeitgeber vorzuknöpfen. Die Person, die dafür verantwortlich ist, dass weit und breit nur eine Person auf der Fläche steht und den Job von dreien machen soll. Wenn du dich also das nächste Mal dabei ertappst, dass es dich aufregt, dass zehn Kunden vor dir in der Schlange stehen und nur eine Kasse besetzt ist, dann frag doch mal freundlich nach dem Chef.

Kim Lange ist Betriebsratsvorsitzende von H&M im Berliner Gesundbrunnen Center