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Solidarität statt Diffamierung: Lohnabstandsgebot oder Lohnanstandsgebot

Barbara Borchardt

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regelsätzen hat in der Bundesrepublik Deutschland zu einer unfassbaren Debatte geführt, die die Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreibt und den sozialen Frieden gefährdet.

Die Verfassungsrichter haben sich in ihrem Urteil auf das Grundgesetz, Artikel 20 "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." bezogen und zudem den Artikel 1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar." herangezogen. Für Westerwelle ist dieses Urteil scheinbar eine Provokation. Er macht in dieser Debatte deutlich, dass er trotz Finanz- und Wirtschaftskrise nach wie vor den Kräften des Marktes vertraut, auf Eigenverantwortung in allen Bereichen setzt und damit quasi das Sozialstaatsgebot abschaffen will. Was als Sorge um die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme daher kommt, soll die von der FDP angestrebte Neuausrichtung des Sozialstaates in Fahrt bringen. Der Fürsorge- und Sozialstaat soll durch einen Kontroll- und Sanktionsinstrumente ersetzt werden. Aus dem Kampf gegen die Armut wird ein Kampf gegen die Armen. Die gesellschaftliche Verantwortung für Arbeitslosigkeit wird ausgeblendet, die persönliche Schuldzuweisung wird verstärkt. Nicht nur, dass Westerwelle bei dieser Debatte völlig ausblendet, dass die Menschen, die von der Erwerbslosigkeit betroffen sind, gern an der Erwerbsarbeit teilhaben wollen, denn Arbeit ist mehr als Geld verdienen. Schlimmer noch, er blendet auch aus, dass ArbeitnehmerInnen wie Arbeitssuchende mehr und mehr bereit sind "jede Arbeit" anzunehmen, damit sie sich den Drangsalierungen, Unterstellungen, Kontrollen der Behörden nicht aussetzen müssen. Die Angst der Menschen, nach kurzer Zeit in Hartz IV zu fallen, ist stärker denn je. Neben vielen anderen Gesichtspunkten meint der FDP-Vorsitzende, das Lohnabstandsgebot muss gewahrt bleiben. Auch diese Debatte ist nicht neu.

Im Gegenteil, sie ist gesetzlich normiert. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass diejenigen, die arbeiten mehr in der Tasche haben müssen, als diejenigen, die nicht an der Erwerbsarbeit teilnehmen. Offensichtlich ist jedoch, dass nicht die Sozialleistungen zu hoch sondern die Löhne zu niedrig sind. Aber das will Westerwelle nicht in den Mittelpunkt der Debatte stellen. Im Gegenteil, er nimmt hier ganz bewusst in Kauf, dass diejenigen, die für einen solchen Lohn arbeiten, vom Staat ergänzende Leistungen in Anspruch nehmen müssen, die wiederum vom Steuerzahler finanziert werden. Ausgeblendet werden darf dabei nicht, dass gerade die Politik seit 1998 von Rot/Grün bis Schwarz/Gelb die Voraussetzungen für einen Niedriglohnsektor geschaffen hat. Ergebnis dieser Politik ist, dass rund 6,5 Millionen Menschen in diesem Land zu Niedriglöhnen arbeiten. 1,4 Millionen müssen ergänzend Hartz IV beantragen, um über die Runden zu kommen. Die von Arbeitgebern gezahlten Hungerlöhne werden auf diesem Weg vom Staat jährlich mit 9,3 Mrd. Euro subventioniert.

Ja, auch wir sagen – Arbeit muss sich lohnen. Aber wir ziehen andere Konsequenzen. Die Sozialleistungen müssen deutlich erhöht werden, damit dem Sozialstaatsgebot Rechnung getragen wird. Und selbstverständlich gehört dazu, dass mit der Niedriglohnpolitik im Sinne des Lohnabstandsgebotes endlich Schluss gemacht wird, bis hin zur Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohnes. In diesem Sinne ist auch die Forderung des Bremer Institutes für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) nach Verankerung eines Lohnanstandsgebotes in § 121 SGB III und § 10 SGB II zu unterstützen. Seine Forderung bedeutet die Verankerung eines zumutbaren Mindestlohnes. Nur so kann verhindert werden, dass Menschen, die arbeiten, weniger verdienen als Menschen, die auf Sozialleistungen vom Staat angewiesen sind.

Deshalb ist es notwendig eine neue Debatte um die Erwerbsarbeit, über Werte in der Gesellschaft zu führen und die Frage der Sicherung und Stärkung des Sozialstaates größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Barbara Borchardt, MdL ist Mitglied in der Fraktion DIE LINKE im Landtag Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied im BundessprecherInnenrat der AG Betrieb & Gewerkschaft