Programmdebatte in der LINKEN
Ulrike Zerhau
"Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme" schrieb Karl Marx am 5. Mai1875 an Wilhelm Brake. Wozu dann so ein Wirbel um das zukünftige Parteiprogramm der LINKEN? Ist es nicht viel effektiver, sich mit linkem Pragmatismus ins politische Alltagsgeschehen zu stürzen, alle Energie auf erfolgreiche Wahlkämpfe, die Erarbeitung alternativer Politikkonzepte und konkrete Kampagnen und Aktionen auszurichten und die Diskussion um Programme den TheoretikerInnen unter uns zu überlassen?
Mit Marx und Engels allerdings kann nicht argumentieren, wer dies schlussfolgert. Sie mischten sich seinerzeit heftig in die Debatte um das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ein ("Abgesehen davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen." Marx, s.o.). Einzelne Forderungen griffen sie im Detail an und wiesen sie als scheinradikale Phrasen zurück ("...ein Haufen ziemlich verworrener rein demokratischer Forderungen..., von denen manche reine Modesachen sind, wie z.B. die "Gesetzgebung durch das Volk", die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt etwas anrichtet." Engels an Bebel 18./28. März1875) und sie hoben kritisch hervor, dass die Gewerkschaften als strategisch bedeutende Organisationen nicht erwähnt wurden. Letztlich war ihnen ihre Kritik an der Programmatik so wichtig, "...dass, falls es (das Gothaer Programm) angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen können".
Wozu brauchen wir ein Programm? Ein Parteiprogramm formuliert unseren politischen Standpunkt, unsere gesellschaftlichen Ziele. Unser Parteiprogramm soll eine Vorstellung von der Welt bieten, in der wir leben möchten und Richtschnur für unsere tagesaktuellen Auseinandersetzungen sein. Für Mitglieder und der Partei nahe Stehende soll es Identität stiften und die Partei als ganzes im gesellschaftlichen und politischen Koordinatensystem verorten. Spätestens in den Wahlkämpfen der letzten Monate hat sich gezeigt, dass unsere Partei die Diskussion um unsere programmatischen Grundsätze dringend braucht. Allein die Aufstellung unserer Wahlprogramme machte deutlich, dass hinter dem Streit um einzelne Forderungen offene Fragen und Kontroversen stecken, die eine gründliche Aufarbeitung benötigen. Auch erfolgreiche Wahlergebnisse wie in Brandenburg führen zu einer grundsätzlichen Streitfrage, nämlich zu welchen Bedingungen Regierungsbeteiligung angestrebt werden soll oder ob überhaupt. DIE LINKE muss sich daher zügig an die Arbeit machen, um den gemeinsamen politischen Standort, die gemeinsamen Ziele und wichtige Schritte auf dem Weg dorthin zu klären.
Wir fangen nicht bei Null an. Mit der Gründung der LINKEN wurden die programmatischen Eckpunkte verabschiedet, die in gemeinsamer Arbeit der beiden Quellparteien, WASG und Linkspartei.PDS, erarbeitet wurden. "Wir wollen eine Partei, wie es sie in Deutschland noch nicht gab – Linke einigend, demokratisch und sozial, ökologisch, feministisch und antipatriarchal, offen und plural, streitbar und tolerant, antirassistisch, eine konsequente Friedenspolitik verfolgend." heißt es dort. Viele Gemeinsamkeiten konnten festgehalten werden, etliche Fragen wurden aber nur angerissen oder konnten nicht ausdiskutiert werden. In einzelnen Punkten gab es sogar kontroverse Auffassungen. In den Nachbemerkungen der Eckpunkte sind daher eine Reihe noch zu klärender Fragen und Streitpunkte festgehalten worden, z.B., welche Möglichkeiten und Instrumente einer Demokratisierung der Wirtschaft wir anstreben sollen, ob die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aufgehoben werden müssen, ob die Forderung nach Vollbeschäftigung noch ein realistisches Ziel alternativer Politik sein kann, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung gewollt wird, was eigentlich unter feministischer Politik zu verstehen ist, welche Bedeutung Klasseninteressen heute noch haben und ob wir Regierungsbeteiligung auf Bundes- und Landesebene anstreben.
DIE LINKE hat sich zum demokratischen Sozialismus bekannt, was wir allerdings darunter verstehen, werden wir in der vor uns liegenden Debatte genau bestimmen müssen. Als Mitgliederpartei legen wir Wert darauf, dass sich möglichst viele Mitglieder an der Programmdebatte beteiligen, aber auch Gewerkschaften, linke Organisationen und Bewegungen fordern wir auf, ihre Meinungen und Vorstellungen einzubringen.
Zur Vorbereitung, Begleitung und Auswertung der Mitgliederdiskussion hat der Parteivorstand Ende 2007 eine Programmkommission eingerichtet. Ihre Mitglieder sind: Lothar Bisky, Oskar Lafontaine, Elmar Altvater, Christine Buchholz, Birke Bull, Christine Emmerich, Heike Hänsel, Cornelia Hirsch, Dieter Klein, Ralf Krämer, Caren Lay, Horst Schmitthenner, Heinz Vietze und Ulrike Zerhau. Bisher hat die Kommission entlang eines Rohentwurfes einen Diskussionsvorschlag diskutiert, wobei an einzelnen Punkten die offenen (Streit-)Fragen aus den Eckpunkten immer wieder relevant wurden.
Der Ausbruch der dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise stellte die Programmkommission vor die Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen einzuarbeiten und neu aufgeworfene Fragen zu berücksichtigen. Zudem hat das Superwahljahr 2009 die Arbeit der Programmkommission zeitlich beeinflusst. Um wichtige kontroverse Fragen zu vertiefen, wurden von einzelnen Mitgliedern der Programmkommission Positionspapiere zu einzelnen Themen eingebracht und diskutiert. (Z.B. zur öffentliche Daseinsvorsorge, zur Bildungspolitik und zur Friedenspolitik). Diese und weitere Stellungnahmen können auf der Web-Seite der LINKEN aufgerufen werde. Weniger bekannt ist, dass gleich nach der Einrichtung der Programmdiskussion Frigga Haug von den beiden Vorsitzenden und Leitern der Programmkommission beauftragt wurde, einen wissenschaftlichen feministischen Beirat zu bilden. Dieser soll mit einem kritischen Blick von außen die Programmdebatte begleiten. Inzwischen liegt hier eine international eingeholte Stellungnahme vor, die beim Parteivorstand angefordert werden kann.
Alle Mitglieder und alle Gliederungen der LINKEN sind aufgefordert, sich aktiv in die Programmdebatte einzumischen. Dazu werden unterstützendes Material und Vorschläge für die Gestaltung von Veranstaltungen bereit gestellt. Der Zeitplan sieht vor, dass die Programmkommission dem Parteivorstand im Februar 2010 einen Diskussionsentwurf vorlegen wird, der dann breit diskutiert werden soll. Im Ergebnis dieser Debatte ist im Frühsommer 2011 ein Parteitag geplant, der beraten und beschließen wird.