"Nach oben bückt man sich nicht"
Interfiew mit Thomas Goes
Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" wird innerhalb der Linken viel gelobt und diskutiert. Die Zeitschrift marx21 sprach mit dem Soziologen Thomas Goes, der wie Eribon aus einer Arbeiterfamilie stammt und heute an der Uni forscht, über die Lehren aus diesen Debatten für DIE LINKE. Wir veröffentlichen hier eine Kurzfassung des Interviews.
Große Teile der Arbeiterklasse geben heute der Rechten ihre Stimme. Für Eribon hat das vor allem mit einem Verlust der Klassenidentität zu tun. Überzeugt dich das?
Nein. Eribon beschreibt ja in Ansätzen, wie aus einer "politisch befestigten Arbeiterbewegung" eine wurde, der es an Stolz, Selbstvertrauen und - das ist wichtig - wirksamen Instrumenten fehlt, die eigenen Interessen durchzusetzen. Er nennt da nicht zuletzt die Abwendung der Linken von der Arbeiterklasse. Fehlende Repräsentation durch die Linke zum Problem zu machen, halte ich für richtig. In der soziologischen Forschung spricht man etwa von einer "populistischen Lücke".
Weil traditionell linke Parteien die Ansprüche der Arbeitenden nicht mehr vertreten?
Nicht nur das. Sondern auch, weil sie die Seiten gewechselt haben. Für die Sozialdemokratie ist das ganz einfach nachzuvollziehen, da sie als modernisierte Marktsozialdemokratie die Neoliberalisierung mit vorangetrieben haben. Das ist aber nur die eine Seite. Seit Anfang der 1990er ist ja auch ein breites Spektrum neuer Linksparteien entstanden, z.B. DIE LINKE in Deutschland. Die alten Linksparteien als Klassenparteien ersetzen konnten sie aber alle nicht. Die Frage lautet also: Warum hat es die Linke jenseits von Sozialdemokratie und den alten Kommunistischen Parteien nicht geschafft, eine mobilisierende Klassenpolitik zu erfinden? Deshalb reicht es auch nicht, wenn wir auf die "populistische Lücke" verweisen, die durch die Rechtsentwicklung alter Linksparteien entstanden ist.
Und worauf führst du das zurück?
Alte Solidarkollektive sind schlicht zerrissen, man denke an die Niederlagen der Arbeiterklassen im Ruhrgebiet. Gleichzeitig sind neue Sektoren der Klasse entstanden, allerdings unter sehr schwierigen Bedingungen, v.a. im Dienstleistungssektor aber auch an den flexiblen Rändern der Exportindustrie. Ich will hier keinen Niedergangsgesang anstimmen, aber wir haben eine Geschichte von sanften Niederlagen hinter uns und nur sehr wenige ausstrahlende Erfolgsbeispiele, die zeigen, dass wir gewinnen können. Weit verbreitet sind darum auch Resignation und Ohnmachtsgefühle. Aber es gibt auch Gegentendenzen.
Und an diese Resignation und Ohnmachtsgefühle setzen dann die Rechten an?
Da, wo Rechtspopulisten oder Postfaschisten die soziale Frage entdecken und stark machen, benehmen sie sich wie eine "Sozialdemokratie nur für Deutsche" oder "nur für Franzosen" oder "nur für Dänen". Natürlich nicht in dem Sinne, dass sie sozialdemokratisch argumentieren. Aber sie predigen dann exklusive Solidarität. Das wirkt durchaus anziehend auf Menschen, die unter der Neoliberalisierung leiden. Dabei können sie an diverse neoliberale Versatzstücke anknüpfen, z. B. den Standortnationalismus, der dem kapitalistischen Wettbewerbsstaat innewohnt oder den antimuslimischen Rassismus, zu dem mit dem Krieg gegen den Terror durch die Zivilgesellschaft geblasen wurde. Mit anderen Worten: Man bricht ja gerade keine Tabus, wenn man Arbeitslose abwertet, wenn man für Arbeit zuerst für Deutsche ist oder wenn man gegen Muslime hetzt.
Bedeutet eine stärkere Orientierung auf die Arbeiterklasse, mehr über die soziale Frage zu sprechen und weniger über Feminismus, Ökologie, Rassismus und Krieg?
Nein. Ich wüsste auch nicht, wie eine nicht-feministische, eine nicht antirassistische und eine nicht-ökologische Klassenpolitik uns weiterbringen könnten. Wenn Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund ausgebeutet werden, wie könnten wir dann keine feministische und auch antirassistische Klassenpolitik machen? Und ehrlich, wer heute kein Ökosozialist ist, hat schlicht nicht verstanden, dass es nicht die Frage ist, ob wir epochalen Natur- und Lebensmittelkrisen entgegenschreiten, sondern wieviel Zeit wir noch haben, das Schlimmste zu verhindern.
Wenn Linke von "Geringverdienern" oder "sozial Schwachen" statt von Arbeiter/innen und von "Reformen" statt von Ausbeutung reden, machen sie Menschen zu passiven Opfern ohne kollektive Machtpotenziale. Brauchen wir wieder mehr Klassenkampfrhetorik?
Es kommt darauf an, was damit gemeint ist. Möglichst oft "Arbeiterklasse" sagen, wird wohl nicht weiterhelfen. Damit aus einer "Klasse an sich" eine politisch sich mobilisierende Klasse wird, braucht es aber natürlich Symbole und eine Sprache, die Würde, die Stolz und auch Stärke ausdrücken. Ein persönliches Beispiel: Dass ich mich nie dafür geschämt habe Kind angelernter Arbeiter zu sein, hat damit zu tun, dass ich sehr früh zwei Dinge beigebracht bekommen habe. Erstens: Arbeiter machen alles, was man sehen kann. Ohne sie gibt es keine Häuser, gibt es keine Autos, gibt es nichts. Zweitens: Nach oben bückt man sich nicht. Das ist ein ganz rudimentäres Klassenethos und darin wurzelt auch Klassenstolz.
Wie kann DIE LINKE darauf aufbauen?
Eine intelligente Sprache, moderne Symbole und eine zuspitzende Kampagnenpolitik, die an dieses Klassenethos anknüpfen und es in der Öffentlichkeit sichtbar machen, wären sehr wertvoll. Dabei klar zu machen, dass unser Gegner ein System ist, darin aber eine Ausbeuterklasse vom Elend anderer profitiert, schadet sicher nicht. Wir brauchen ein grundlegend anderes Gesellschaftsmodell und ein neues politisches System. DIE LINKE müsste sich als Kraft der radikalen Demokratisierung verstehen, die für die Interessen der Ausgebeuteten kämpft.
Macht sie das nicht bereits?
Würde ich die inneren Diskussionen der Partei nicht kennen, dann würde ich meinen, sie wolle nicht etwas ganz Neues, sondern eine bessere Version vom Alten. Melénchons Forderung nach einer neuen Republik wirkt auf mich radikaler als unser Plädoyer für einen demokratischen Sozialismus, der eh nicht auf der Tagesordnung steht und zu dem wir uns gemeinsam etwa mit SPD und Grünen auch nicht auf den Weg machen können. Ich kenne natürlich die Stimmen, die sagen, dass wir die Menschen ebenfalls verlieren, wenn wir keine realistische Machtoption entwickeln. Das ist auch richtig. Nur halte ich eine Koalition mit der SPD und Grünen zwar für machbar, aber nicht für ein realistisches Mittel, um Umverteilung und Demokratisierung - um das Mindeste zu sagen - auf den Weg zu bringen.
Wie sieht die Alternative aus?
Wenn DIE LINKE Partei der arbeitenden Klassen sein will, dann reicht ihr größtenteils richtiges Programm nicht aus. In unserem neuen Buch "Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte?" geben wir eine ausführlichere Antwort auf deine Frage. Hier nur so viel: DIE LINKE müsste eine starke Kraft der Organisierung von lokaler Gegenmacht werden: 60 Prozent Energie auf die Arbeit vor Ort, 20 Prozent interne Arbeit (Bildungsarbeit, um Mitglieder zu fördern), 20 Prozent auf die parlamentarische Arbeit. Ich muss wohl niemandem sagen, dass es eine innerparteiliche Kulturrevolution bräuchte, um zu einer solchen Arbeitsweise zu kommen.
Thomas Goes forscht am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) Göttingen zu Kapitalismus, Arbeitsbeziehungen und zum Bewusstsein von Lohnabhängigen. Vor kurzem veröffentlichte er gemeinsam mit Violetta Bock das Buch "Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte" im PapyRossa Verlag.
Die Fragen stellte Martin Haller, Redakteur der Zeitschrift marx21.