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2023/411

DIE LINKE und die sozial-ökologische Transformation

Beschluss der Parteivorstandsberatung vom 23. April 2023

Im Zuge der Erarbeitung des Europa- sowie Bundestagswahlprogramms werden die Inhalte des nachfolgenden Textes diskutiert und berücksichtigt. 

 

Ressourcen umverteilen – Ökologische und soziale Frage gemeinsam solidarisch lösen

 

Die Folgen der Klimaveränderungen sind täglich spürbar. Strukturelle Veränderungen sowie Umstellungen in der eigenen Lebensweise sind notwendig. Beides ist den Meisten bewusst, stößt bei einigen aber auch auf Widerstand. Dazu zählen vor allem die Profiteur*innen des Kapitalismus, die weiter an Gewohntem festhalten wollen. Einige davon sind zwar zu Veränderungen bereit und wollen einen sogenannten grünen Kapitalismus, aber ohne eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, was und wie wir produzieren, verschleiern wir die Probleme nur oder schieben wir sie auf.

Auch Menschen mit geringem Einkommen und sozial Benachteiligte, die schon jetzt von der Klimakatastrophe betroffen sind, stehen notwendigen Veränderungen oft genug kritisch gegenüber, auch weil politisch über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.

Eine ökologische und soziale Politik braucht Antworten auf die Fragen zu den notwendigen Grundgütern und Ressourcen. Dabei geht es auch um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, was dies umfasst und wie es verteilt wird. Im Mittelpunkt dabei muss immer die Verbesserung der Lebenssituation derjenigen mit geringem Einkommen und in prekären Lebenssituationen stehen - ebenso die Absicherung der Existenzgrundlage der nachfolgenden Generationen.

 

Global denken – lokal handeln

Armut und Ausgrenzungen haben globale Ursachen. Und globale Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Sozialsysteme aller Länder. Die Klimakatastrophe trifft zuerst die Menschen des globalen Südens. Ihre Ausbeutung und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen vor Ort sind die Grundlage für das, was im globalen Norden Wohlstand heißt. Niedrige Entlohnung sowie Umweltzerstörung im Süden und Massenkonsum sowie Ressourcenverschwendung im Norden gehen Hand in Hand. Beide Lebensweisen widersprechen echten menschlichen Bedürfnissen. Vor allem der globale Norden muss Konsum und Produktion verändern, um unser Überleben zu sichern.

 

Eine moderne und zukunftsfähige Linke muss für Ressourcenumverteilung kämpfen und dafür streiten, dass wir eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung darüber führen, was gutes Leben für alle auf unserem Planeten bedeutet. Bis dahin müssen wir Menschen, die vor Krieg und Umweltzerstörung fliehen, Existenz und Teilhabe ermöglichen.

 

Was bedeutet staatliche Sozialpolitik im Hinblick auf eine progressive globale Politik?

a) Sozialpolitik muss Resilienzpolitik sein, also eine Politik, die durch infrastrukturelle Maßnahmen der Daseinsvorsorge gleichen Grundschutz für alle bietet.

b) Die Verfügbarkeit lebensnotwendiger Ressourcen und Güter muss (international) gleich verteilt werden.

c) Produktion, Erwerbsarbeitsbedingungen und Auftragsvergaben müssen ökologischen und sozialen Mindestkriterien genügen.

d) Die tiefgreifenden Umbrüche am Arbeitsmarkt, die die notwendige sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschaft zeitigen wird, müssen sozial-, arbeitsmarkt- und bildungspolitisch flankiert werden, damit nicht viele Menschen zu Verlierer*innen des Umbaus werden.

e) Der notwendige sozial-ökologische Umbau muss durch massive Investitionen in erneuerbare Energien, klimafreundliche Produkte und Infrastrukturen unterstützt werden. Er darf nicht zu Lasten der Solidarsysteme gehen, sondern muss von den Profiteur*innen bezahlt werden. Wichtig ist hierbei, dass auch die Kommunen in die Lage versetzt, die nötigen Investitionen zu stemmen und für Akzeptanz vor Ort zu werben. Es ist zumutbar und gerecht, dass die Reichsten für die Folgen der Klimakatastrophe aufkommen. Diese tragen durch ihren entgrenzten Konsum und die Ausbeutung des globalen Südens am meisten dazu bei. Dem begegnet eine Linke mit einer sozialen Klimapolitik der Ressourcenumverteilung. Nur so lassen sich Regulierungsmaßnahmen und strukturelle Veränderungen umsetzen, um die Freiheit und die Erfüllung der Grundbedürfnisse zu sichern.

 

Konzepte und Antworten entwickeln

 

Eine ökologische Sozialpolitik der Ressourcenumverteilung steht vor der Herausforderung, Konzepte und Antworten auf sich regulatorisch aufdrängende Fragen zu entwickeln.

Klimakrisenfeste Sozialpolitik muss zwangsläufig konkrete Antworten auf Fragen finden, die sich unter anderem bereits im Rahmen der Energiekrise gestellt haben:

 

Was sind lebenswichtige Grundgüter, deren Vernichtung oder Einschränkung durch die Klimakatastrophe droht?

Wer erhält in welchem Umfang ein kostengünstiges Grundkontingent an lebenswichtigen Gütern wie z.B. Wasser, Wärme, Energie, Lebensmittel?

Wie können wir die Agrar- und Ernährungswende gestalten, so dass jetzt und auch in Zukunft niemand hungern muss? Wie produzieren wir ausreichend Nährstoffe für alle und begegnen Bodenerosion, Biodiversitäts- und Bodenverlust sowie die Folgen des Klimawandels?

Was sind Kriterien für ökologische und soziale Mindeststandards bei Produktion und Erwerbsarbeit?

Ist eine „Ausgleichsabgabe“ für ein die Klimakatastrophe beförderndes Wirtschaften eine angemessene Lösung und wie kann diese ggf. ausgestaltet werden?

Wie kommen wir zu bezahlbarem und klimaneutralem Wohnraum für alle? Welcher Flächenverbrauch ist für welchen Personenkreis aus welchen Gründen angemessen?

Wie kann der Wohnungsmangel behoben werden? Wo darf – wenn überhaupt – noch Flächenversiegelung stattfinden und wo Nachverdichtung?

Wer hat welche Möglichkeiten, sich vor Hitze und Kälte zu schützen? Welche öffentlichen infrastrukturellen Angebote sind für Hitze- und Kälteschutz nötig? Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen sind nötig, um Hitze- und Kälteschutz bei Neubau und Sanierung zu verankern?

Welche Form von Mobilität wird wie gefördert und unterstützt?

Wer soll in welchem Umfang zur Finanzierung der Kosten des strukturellen Umbaus wie herangezogen werden?

Welche Alternativen werden Menschen angeboten, deren Erwerbsarbeitsplatz aus ökologischen Gründen absehbar keine Zukunft haben kann?

Eine LINKE, die als gesellschaftlich relevante Kraft die Gesellschaft gestalten will, muss stringente Antworten auf diese Fragen finden und Sozialpolitik als interdisziplinären Ansatz verstehen.

 

Inklusive Ökologische Sozialpolitik

 

Das Leitbild Ökologische Sozialpolitik ist eine Umverteilungs- und Klimapolitik, die die größtmögliche Freiheit der Individuen sichert.

Soziale Sicherungssysteme müssen armutsfest sein. Jede*r muss in der Lage sein, mit den Leistungen aus den sozialen Sicherungssystemen bezahlbare Grundkontingente an lebenswichtigen Gütern zu beziehen und angemessenen Wohnraum zu finden. Transferleistungen müssen gesellschaftliche Teilhabe garantieren. Die Grundsicherung ist das unterste Netz und darf nicht, wie z. B. derzeit im Asylbewerberleistungsgesetz, unterschritten werden. Gleiches Recht für alle bedeutet auch, dass alle Menschen die gleichen Grundsicherungsleistungen erhalten. Soziale Sicherungssysteme müssen darüber hinaus der vielfältigen Realität heutigen Zusammenlebens gerecht werden. Neben dem klassischen Familienmodell gibt es mittlerweile vielfältige Formen des Zusammenlebens, auf die die derzeitigen Solidarsysteme keine oder nur unzureichende Antworten haben.

Eine armuts- und krisenfeste Sozial- und Klimapolitik muss den Anforderungen einer Einwanderungsgesellschaft entsprechen und die Unterschiedlichkeit der Menschen auf allen Ebenen berücksichtigen. Nur wenn Diversität, Inklusion und Partizipation als fester Bestandteil der Sozialpolitik einbezogen werden, wird die gesellschaftliche Teilhabe aller garantiert. Das ist auch die Voraussetzung, um allen Menschen Informationen, Beratung, Unterstützung und Beteiligung anzubieten.

 

Soziale Gesundheitspolitik

 

Sozialpolitik betrifft auch den Zugang zum Gesundheitswesen für alle. Der Zugang zum Gesundheitswesen für alle setzt nicht nur eine qualitativ gute haus- und fachärztliche Versorgung voraus, sondern auch ausreichend finanzierte und gut erreichbare Krankenhäuser. Dies ist insbesondere für Menschen mit geringen oder keinen finanziellen Mitteln von zentraler Bedeutung. Dazu zählen auch Illegalisierte, Geflüchtete oder Menschen ohne Krankenversicherung, denen heute der gleichberechtigte Zugang fehlt. Gleiches trifft auf den Bereich der Pflege zu.

 

Progressive Arbeits- und Wirtschaftspolitik

 

Weitere Veränderungen zeichnen sich auch im Erwerbsleben der Menschen ab. Wir stehen mit den Herausforderungen des sozial-ökologischen Umbaus, der Digitalisierung sowie der Entwicklung von künstlicher Intelligenz weiterhin mitten in umfassenden Transformationsprozessen. Hans-Jürgen Urban sagt: »Die gerechte Transformation ist ein historischer Auftrag der Gewerkschaften« - und diese historische Herausforderung steht vor allen Organisationen, die die Interessen derer vertreten, die ihren Lebensunterhalt nicht aus Kapitaleinkünften bestreiten - also insbesondere vor linken Parteien. Die Klasseninteressen der Beschäftigten in diesen Prozess einzubringen, damit die ökologische Transformation keine Verlierer produziert ist der entscheidende Unterschied zwischen linken Konzepten für den sozial-ökologischen Umbau und bürgerlichen Ansätzen. So müssten soziale Perspektiven geschaffen werden, zum Beispiel wenn Beschäftigte von Arbeitsplatzverlust bedroht seien. Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten werden sich ebenso verändern wie Berufsbilder und deren Entlohnung. Zudem müssen diese Veränderungen aktiv und demokratisch gestaltet werden. Das ist ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen, ökologischen und demokratischen Wirtschaft, die die Frage nach dem, was gute Arbeit ist, positiv beantwortet. Gute Arbeit bedeutet, Absicherung der Existenz, Erhalt der Gesundheit und Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation. Sie bedeutet auch, dass Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen selbst in die Transformationsprozesse und bei der Entwicklung einer ökologisch nachhaltigen Produktion einbezogen werden und mitbestimmen können.

 

Sozialpolitische Orientierung des Strafrechts

 

Ökologische Sozialpolitik umfasst auch die Frage des Strafrechts. Sozialpolitik ist die Grundlage dafür, dass Regelungen wie zur Beförderungserschleichung oder zum Containern nicht einseitig diejenigen belasten, die wenig oder gar kein Einkommen haben. Zumal die Nutzung des ÖPNVs oder der Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln auch klimabewusstes Handeln darstellen. Die Ersatzfreiheitsstrafe, also der Aufenthalt in einer Strafvollzugsanstalt wegen nicht bezahlter Geldstrafe, ist eine originär sozialpolitische Frage. Und es gibt auch eine Verbindung zur ökologischen Frage. Die Nichtzahlung einer Geldbuße wegen überhöhter Geschwindigkeit, also einer potentiell klimaschädlichen Handlung ist davon ausgenommen. Das Ziel muss die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe sein.

 

Was jetzt geschehen muss: Sozialpolitik für das Heute

 

Sozialpolitik als Ressourcenumverteilungspolitik muss soziale, politische und kulturelle Benachteiligungen solidarisch thematisieren. Neben langfristigen Veränderungen werden auch kurz- und mittelfristige Ansätze benötigt. Kurzfristig sind die Regelsätze um mindestens 229 Euro anzuheben. Mittelfristig sind Regelsätze in der Mindest- oder Grundsicherung von 1.200 Euro und eine Kindergrundsicherung (gestaffelt nach Alter) von 520 bis 630 Euro einzuführen. Es ist ein bezahlbares/kostengünstiges Grundkontingent für Heizung, Wasser und Strom einzuführen. Ergänzend dazu braucht es einen Härtefallfond. Die Kosten der Unterkunft inklusive Heizkosten müssen sich an den realen Kosten orientieren. Bei der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, Pflege- oder Gesundheitseinrichtungen müssen die Erfahrungen aus der Pandemie berücksichtigt werden. Das beinhaltet Standards, die die Abstands- und Hygieneregelungen ebenso berücksichtigen, wie die Einhaltung einer Privatsphäre. Entsprechende Konzepte und Finanzierungsgrundlagen sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene sind nötig, auch um z. B. Träger bei dem Umbau in Richtung Wohnungs-Appartementstruktur zu unterstützen. Es sind Kriterien für eine resiliente Sozialpolitik zu entwickeln und entsprechende Rechtsgrundlagen und Förderprogramme zu schaffen. Es geht um infrastrukturelle Vorsorge im Hinblick auf die Auswirkungen der Klimakatastrophe.

Verschiebungen am Arbeitsmarkt und Übergänge von Beschäftigten in neue Tätigkeiten, in andere Betriebe, Branchen oder Sektoren müssen staatlich unterstützt und sozial abgesichert werden, z.B. durch Förderung von Qualifizierung. Instrumente zur Finanzierung des sozial-ökologischen Wandels müssen entwickelt werden und dürfen nicht zu Lasten der Menschen mit wenig oder keinem Einkommen gehen. Es ist über einen Klima-Soli und eine Klimaabgabe bei klimaschädlicher Produktion nachzudenken. Ein weitgehender Versiegelungsstopp und die Festschreibung einer ökologischen Bauweise müssen verbindlich verankert werden. Öffentliche Aufträge müssen an soziale und auch an Kriterien im Hinblick auf Beiträge zur Klimaneutralität geknüpft werden.

 

Wir haben nur noch wenig Zeit – nutzen wir sie

 

In Zeiten, in denen die Folgen der Klimakatastrophe deutlich spürbar werden und gleichzeitig die Spaltung der Gesellschaften (und Öffentlichkeiten) immer auffälliger wird, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen vieler, um sozialen Zusammenhalt und damit auch die Demokratie zu erhalten. Dabei geht es insbesondere um Ressourcenumverteilung. Eine LINKE, die als gesellschaftlich relevante Kraft in die Gestaltung der Gesellschaft eingreifen will, muss die bisherigen Konzepte updaten, um sie sozial-ökologisch anzupassen und für Resilienz vor Klimafolgeschäden zu modernisieren.

 

Dies alles stellt neue Herausforderungen an eine Sozialpolitik, die armuts- und krisenfest ebenso sein muss, wie sie die Existenz und Teilhabe aller Menschen in einer Migrationsgesellschaft absichert und die Vielfalt der heutigen Lebensformen berücksichtigt.

 

Autor*innen: Björn Knutzen-Rühl, Katrin Mohr, Elke Breitenbach, Halina Wawzyniak