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Lehren aus Niedersachsen

Nachträglich verschriftliche Diskussionsthesen zum Einstieg in die Beratung des Ältestenrates - von Dr. Manfred Sohn, Landesvorsitzender in Niedersachsen

Erste - persönliche - Vorbemerkung

Die Einladung in dieses Gremium hat mich sehr berührt und geehrt. Dieses Gremium ist meines Erachtens in unserer Partei in seiner Bedeutung unterschätzt.

Demnächst kehre ich zurück in den Betrieb, in dem ich zuvor rund 20 Jahre für Lohn und folglich auch gewerkschaftlich gewirkt habe. Dieses Unternehmen besteht seit über 250 Jahren. Immer, wenn dort wichtige Entscheidungen anstehen, konsultiert der amtierende Vorstand eine Versammlung, die dort zwar nicht "Ältestenrat" heißt, aber zu der dann jeweils alle noch lebenden ehemaligen Vorstandsmitglieder dieses Gremiums eingeladen werden. Die haben keine formale Entscheidungsgewalt - aber es geschieht in diesem Unternehmen nichts von Bedeutung ohne daß vorher die Stimmen der Erfahrensten gehört werden, die das Unternehmen hat. Ich bin überzeugt: Die Tatsache, daß dieses Unternehmen alle Stürme der letzten 250 Jahre überstanden hat, hat auch mit dieser Achtung vor den Alten zu tun. Ich bin sehr dafür, davon auch für unsere Partei zu lernen.

Zweite - mehr politische - Vorbemerkung

Wenn jemand Thesen zu einer aktuellen Lage vorträgt vor Leuten, vor denen er nicht ständig referiert, sollte dieser Mensch am Anfang die Grundlagen seiner Überlegungen offenlegen. Dies will ich daher zunächst tun, bevor ich zu meinen Diskussionsthesen komme.

Ich gehe von folgender politischer Grundkonstellation sechs Monate vor den Bundestagswahlen aus:

Wir leben im Zentrum des nach den USA mächtigsten kapitalistischen Imperiums der Neuzeit. Die einflußreichsten und klügsten Kräfte dieses europäischen Imperiums wissen, daß sie nicht etwa am Ende, sondern mitten in der schwersten ökonomischen und folglich in der Perspektive auch politischen Krise seit dem II. Weltkrieg stecken. Es gelingt ihnen zur Zeit, diese sich weiter entfaltende Krise sich vor allem in der Peripherie austoben zu lassen. Das ist weder eine Lappalie noch eine Selbstverständlichkeit. Seit dem römischen Reich wissen Herrschende, daß Krisen erst dann wirklich reichsbedrohend werden, wenn sie sich von der Peripherie ins Zentrum zu fräsen beginnen. Hier im Zentrum ist es aber ruhig. Das ist auch durch den Verweis auf die Erfolge von Syrizia und andere allein politisch nicht zu ändern - die Erfolge der Peripherie sind nicht 1 zu 1 auf die Lage im Zentrum übertragbar. Die Herrschenden um Merkel herum - Steinbrück ist dabei eine Randfigur - verdanken diese Stabilität vor allem zwei Faktoren. Zum einen haben sich die tonangebenden Kapitalkreise darauf verständigt, die Kernbelegschaften großer Betriebe nicht ins Elend abrutschen zu lassen. Die soziale und ökonomische Lage bei den Kernbelegschaften zum Beispiel in den Stahlwerken, der Autoindustrie, den Versicherungen und Banken ist zwar zunehmend von Angst geprägt, aber im großen und ganzen in den Kernziffern stabil. Dies steht im scharfen Kontrast zur Lage der prekär Beschäftigten, die systematisch seit der Agenda 2010 ins Elend getrieben werden - und zwar dank der das bewerkstelligenden großen Koalition so rigoros, daß ihnen systematisch jede Hoffnung auf Besserung genommen wird. Das Ergebnis dieses genauso zynisch wie macht-handwerklich gelungenen Doppelmanövers ist, daß die 40% Niedriglöhner, befristet und/oder prekär Beschäftigten oder in die Arbeitslosigkeit getriebenen Menschen im Erwerbsalter als politische Kraft nicht mehr in Erscheinung treten - bei Streiks nicht, bei Demonstrationen kaum und an der Wahlurne auch immer weniger. Im Ergebnis hängt die politische Kraft, die sich ihrer Anliegen vor allem annimmt - also DIE LINKE - politisch im Schacht. Das soll so bleiben und deshalb sind sich die Damen und Herren dieser herrschenden Kreise - von ein paar Ausnahmen, die uns integrieren wollen, mal abgesehen - einig, daß der 22. September vor allem dazu dienen soll, die vor 1989 existierende Normallage wieder herzustellen: Links von der SPD gibt es kein parlamentarisch wirksames Sprachrohr für die Unzufriedenheit, die aus Kriegsgefahr und Krise wächst.

Damit nun zu den Thesen zu dem Thema, das Ihr mir gestellt habt - den Lehren aus Niedersachsen.

1. Die schwere niedersächsische Wahlniederlage vom 20. Januar kann, wenn sie intensiv ausgewertet wird, zu einem wichtigen Schritt zur Sicherung der mittel- und langfristigen Existenz der Partei DIE LINKE werden. Wird sie nicht oder nachlässig ausgewertet, kann sie dazu führen, daß sich die Serie von Wahlniederlagen, die seit dem Nichteinzug in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie dem Herauswählen aus den Landtagen in Schleswig-Holstein und NRW besteht, bis hin zu einer Niederlage bei den Bundestagswahlen so fortsetzt, daß damit die Existenz der Partei DIE LINKE gefährdet wäre.

2. Der niedersächsische Landesverband hat zwischen dem 21. Januar und dem 9. Februar 2013 schriftlich und auf einer Serie von Versammlungen die Wahlniederlage sehr gründlich debattiert und durch einen mit 4/5-Mehrheit verabschiedeten Beschluß zur Auswertung dieser Niederlage zu einem vorläufigen Ende gebracht. Die Kernpunkte dieser Einschätzung sind Bestandteil dieser Thesen und werden hier nicht im Detail erläutert. Sie sind auf der Web-Site unseres Landesverbandes verfügbar.

Die Einschätzung kulminiert in der Erkenntnis, daß die Niederlage nicht auf kurzfristig reparable taktische, personelle oder operative Fehler in der Wahlkampfführung zurückzuführen war. Sie verweist vielmehr darauf, daß der Niederlage eine strukturelle Schwäche der Partei mindestens im Westen Deutschlands zugrunde lag, die durch Wahlkampagnen kurzfristig nicht zu beheben ist.

Angesichts der Tatsache, daß rund 80% der Wahlbevölkerung Deutschlands nicht in den neuen, sondern in den alten Bundesländern leben, würde eine Verarbeitung der niedersächsischen Niederlage derart, daß es nun eine (Rück-)Besinnung auf die alten Stammlande der PDS, also auf Ostdeutschland geben müsse, die Garantie für ein mittelfristigen Verschwinden der Partei DIE LINKE als eigenständige Partei auf nationaler Ebene bedeuten.

3. Das Gespenstische der über Niedersachsen hinausgehenden Auswertungsdebatte über die dortige Niederlage ist, daß es keine Kontroverse gibt, aber eine Fülle von Hinweisen, daß die Einschätzung des niedersächsischen Landesparteitags nicht geteilt wird. So hat der Landesvorsitzende noch in der Woche nach den Wahlen einen Aufsatz in der bundesweit erscheinenden "jungen welt" veröffentlicht, der wesentliche Einschätzungen, die später vom Landesparteitag beschlossen wurden, bereits vorwegnahm. Unterstrichen wurde darin, daß die in Niedersachsen gefahrene Wahlstrategie, die in enger Abstimmung mit der Parteiführung entwickelt wurde, zwar nachvollziehbar war, aber eben die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat. Aber selbst diese massiv selbstkritische Einschätzung hat keinerlei verschriftliche Kontroverse hervorgerufen. Das ist frappierend. Zu erwarten wäre gewesen, daß sich der Parteivorstand oder die Bundestags-Wahlkampfleitung entweder die niedersächsische Position zu eigen gemacht oder sie verworfen und durch einen eigene Verabschiedung ersetzt hätte. Nichts von diesen beiden Möglichkeiten ist passiert - stattdessen gab es nach ausführlichen Diskussionen der Niederlage vom 20. Januar sowohl im PV als auch in der Bundestagsfraktion eine Art kollektives Schulterzucken und ein anschließendes Übergehen zum Tagesgeschäft.

Ob in der Sphäre der Ökonomie, des Militärs oder der Politik: Es gibt keine geschichtlich längerfristig wirkende Organisation, die nicht im Verlaufe ihrer Entwicklung schwere Niederlagen erleidet. Das ist normal. Aber Unternehmen, die schwere Marktanteilsverluste schulterzuckend und ohne Konsequenzen zur Kenntnis nehmen, verschwinden vom Markt ebenso wie Armeen, die nach Niederlagen in mittleren Gefechten ohne Änderung in Ausrüstung, Strategie und/oder Taktik unverdrossen und unverändert in das nächste, größere Gefecht schreiten, von künftigen Schlachtfeldern verschwinden. Analog gilt das für politische Formationen.

4. In einer solchen Gefahr schwebt gegenwärtig die Partei DIE LINKE. Der Göttinger Parteitag hat den Streit in der Partei zwar nach außen beruhigt. Aber Ruhe ist kein Ersatz für Strategie. Die wesentlichen strategischen Fragen nach der eigenständigen Rolle der Partei DIE LINKE sind durch den Göttinger Parteitag nicht gelöst, sondern nur aus einer überhitzt und personifiziert geführten Debatte in die Möglichkeit einer rationalen Debatte überführt worden. Diese Möglichkeit ist aber nicht zur Realität geworden - es findet keine wirkliche Debatte um die Frage der Eigenständigkeit der Partei gegenüber SPD und GRÜNEN, um die Frage der Zugehörigkeit zu einem fiktiven rot-rot-grünen Lager, um das Verhältnis von kurz- zu mittel- und langfristigen Zielen, um die Frage der Oppositions- oder Regierungsrolle als gegenwärtig angemessenen Platz dieser Partei und die damit zusammenhängenden Fragen statt.

Diese Konstellation des Schweigens, wo Streit notwendig wäre und diese Stimmung der trotzigen Unverdrossenheit trägt in sich das Potential einer schweren, möglicherweise existenzgefährdenden Niederlage am 22. September. Die dominierende Gegnerkonstellation - also CDU/CSU und ihr in diesem Punkt folgend SPD/GRÜNE - haben, dem aus ihrer Sicht prachtvollen Erfolgsmodell des Doppelschlags von SH und NRW folgend, eine Woche vor die Bundestagswahlen die Wahlen in Bayern mit der Erwartung gelegt, dort die Partei nicht nur unter die in Niedersachsen mit Mühe noch erreichten 3%, sondern deutlich unter die 2% zu drücken. Bayern hat mit 12 Millionen Einwohnern annährend so viele Wahlberechtigte wie alle neuen Bundesländer zusammen. Es wäre naiv und verantwortungslos, davon auszugehen, daß ein solches Ergebnis nicht - wie in der Woche vor unserer 2,5%-Niederlage von Düsseldorf - dazu genutzt würde, den Kippschalter-Effekt, der 2002 dazu beigetragen hat, uns fast komplett aus dem Bundestag zu drücken, die letzte Woche vor der Bundestagswahl öffentlich dominieren würde.

5. Es wird immer - solange Deutschland imperialistisch, bürgerlich-demokratisch verfaßt und die SPD nicht revolutionär ist - eine politische, parteiförmige Organisation links von SPD und GRÜNEN geben. Ein Verschwinden der Partei DIE LINKE wäre insofern kein historisches, aber es wäre ein aktuelles Drama. Es würde dann die Kraft, die den in diesem Deutschland vorhandenen Widerspruch zu Krieg als Mittel der Politik und der Profitmacherei als dem Dreh- und Angelpunkt allen sozialen Handelns artikuliert, auf parlamentarischer Ebene fehlen. Das Ergebnis wäre eine Marginalisierung - für eine Reihe der handelnden Personen möglicherweise sogar, wie jetzt Tim schon erfährt, Kriminalisierung - von antikapitalistischen, sozialistischen und pazifistischen Positionen und Organisationen.

Eine Nachbemerkung möchte ich anschließen, die den allgemeinen Charakter unserer Partei betrifft.

Bei aller Konzentration und bei aller Achtung der Bedeutung des 22. September macht die Parlamentsfixierung unserer Partei zumindest mir zunehmend Sorge. Der objektiv wirkende Mechanismus parlamentarisch verfaßter bürgerlicher Parteien-Demokratien liegt auf der Hand: Parteien, die überwiegend aus ehrenamtlich wirkenden Menschen bestehen, schicken, wenn die Lage es erlaubt und sie einen guten Wahlkampf organisiert haben, einige aus ihren Reihen in die Parlamente auf Landes-, Bundes- und Europaebene. Dort verwandeln sie sich per Gesetz in gut bezahlte Kleinunternehmer: Sie bekommen für vier oder fünf Jahre nicht nur üppige persönliche Gehaltszahlungen, die ihnen unabhängig von Leistung nicht aberkannt werden können, sondern darüber hinaus einen garantierten regelmäßigen Grundumsatz für die Bezahlung mehrerer MitarbeiterInnen und dazugehöriger Sach- und Reisemittel. Da sie perspektivisch mit anderen in der Partei für die nächste Ausschüttung dieses Vier- oder Fünf-Jahresplans für politische Kleinunternehmer konkurrieren, entscheiden sich die meisten dieser Kleinunternehmen folgerichtig für das Geschäftsmodell "Ich-AG in Form einer Public-Relation-Agentur für das Team xy". Und in dieser Form agieren sie dann inner- und außerparteilich, das Datum der nächsten Listenaufstellung fest vor Augen. Die Angestellten machen mit, weil ihre berufliche Zukunft nicht mit der Partei, sondern mit dem mandatsbehängten Kleinunternehmer verknüpft ist, der sie angestellt hat. Dies läuft in unserer Partei weitgehend unreflektiert ab und führt zu einer schleichenden Verwandlung einer politischen Organisation, in der einzelne vom Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem kapitalistischen Markt durch kollektive Entscheidung freigestellt werden zu einer Versorgungsorganisation mit politischer Abteilung. Wenn wir das nicht nach dem 22. September als strukturelles Problem lösen, erkämpfen wir uns an diesem Tag nur eine Galgenfrist, die den drohenden Niedergang unserer Partei langfristig nicht abwendet.