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betrieb & gewerkschaft

Ein Jahr Mindestlohn in Deutschland

Jan Richter

Seit anderthalb Jahren ist der gesetzliche Mindestlohn Wirklichkeit. Seit seiner Einführung im Januar 2015 bekommt ein Teil der Beschäftigten ein Arbeitsentgelt von 8,50 Euro pro Stunde. Vorläufige Daten zur Wirkung des Mindestlohns sind ermutigend. Niedriglöhne, vor allem in Ostdeutschland, sind deutlich gestiegen und der Mindestlohn hat nachweislich keine Jobs vernichtet. Aller Panikmache der Arbeitgeberlobby zum Trotz funktioniert ein Mindestlohn auch bei uns.

Die Frage der Höhe des Mindestlohns ist aktuell, denn 8,50 Euro schützen nicht vor Armut. Auch die Frage der Ausweitung ist nicht vom Tisch, denn der Mindestlohn gilt nicht für Langzeitarbeitslose, jugendliche Beschäftigte oder Praktikanten. Einzelne Branchen haben noch schnell einen Tarifvertrag abgeschlossen und müssen den vollen Mindestlohn so erst ab 2017 zahlen, Zeitungszusteller kriegen ihn nicht vor 2018. Damit ist der Mindestlohn weit davon entfernt, flächendeckend allgemeinverbindlich zu sein. Er reiht sich in eine Vielzahl von Arbeitnehmerschutzrechten ein, die, von diversen Ausnahmen flankiert, ihre volle Wirkung nicht entfalten können.

Von Gaunern und Doofen

Seit seiner Einführung haben wir Gewissheit: Ein mit Ausnahmen und Übergangsregelungen eingeführter Mindestlohn ist besonders missbrauchsanfällig. Zur Umgehung legten einige Arbeitgeber eine kriminelle Kreativität an den Tag, die ihresgleichen sucht. So mussten Arbeitsgerichte klarstellen, dass die gesetzliche Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall tatsächlich auch für Beschäftigte gilt, die Mindestlohn erhalten oder dieser auch während des gesetzlichen Erholungsurlaubes zu zahlen ist.

Begleitet wurden diese Ausfälle vorrangig durch die Union im Bundestag. Diese gebar vor unser aller Augen ebenfalls im Januar 2015 das Bürokratiemonster der Arbeitszeiterfassung. Für Klaus Ernst ist „das ganze Gejammer eine Scheindebatte. Die CDU/CSU will den Mindestlohn sabotieren“,  sagt der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Ein Arbeitgeber, der es nicht schafft, einen Stundenzettel ordentlich auszufüllen, „ist entweder ein Gauner oder schlichtweg zu doof“, stellte selbst die damalige SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi überraschend nüchtern fest. Das hielt die SPD nicht ab, der Aufweichung der Dokumentationspflichten dann aber doch zuzustimmen.

Die Rhetorik der überbordenden Bürokratie ist nichts weiter als der plumpe Versuch der Arbeitgeber, sich vor etwaigen Strafzahlungen zu drücken. Was nicht dokumentiert ist, kann nicht geprüft, geschweige denn sanktioniert werden. Die dafür zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit untersteht dem Finanzminister (CDU). Und dieser überschüttete die Behörde mit einer neuen Verwaltungsvorschrift nach der anderen. Das zur Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohngesetzes vorgesehene zusätzliche Personal wurde so geschickt an interne Verwaltungsumstellungen gebunden.

Mindestlohngesetz nachbessern

Die Motivation, den beschlossenen Mindestlohn durchzusetzen, ist weder bei Arbeitgebern noch der Union sehr groß. Das SPD-geführte Arbeitsministerium ist entweder nicht Willens oder zu schwach, um dem etwas entgegenzusetzen. Dabei besteht dringender Nachbesserungsbedarf. Zum Beispiel darin, dass der Mindestlohn dem reinen Stundenentgelt ohne Zuschläge, Trinkgeld oder Boni entspricht. Notwendig ist auch, das Gesetz um eine Definition der vergütungsrechtlichen Arbeitszeit zu ergänzen und dabei Kriterien festzulegen, die Arbeitsverhältnisse von ehrenamtlichen Tätigkeiten besser abgrenzen. Den Umgehungsstrategien der Arbeitgeber Einhalt zu gebieten, darf nicht allein Aufgabe der Rechtsprechung sein. Für einzelne Beschäftigte ist es schwerer, gegen den eigenen Arbeitgeber auf Einhaltung des Mindestlohns zu klagen, weswegen Gewerkschaften hier ein Verbandsklagerecht erhalten müssen. Auch Sanktionen laufen ohne Kontrolle ins Leere, deswegen muss das Personal in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit entsprechend aufgestockt werden. Klaus Ernst hat übrigens auch noch einen Vorschlag an all jene, die aufgrund des Bürokratiemonsters nachts nicht mehr ruhig schlafen können: "Die einfachste Form der Entbürokratisierung wäre ein Mindestlohn, der flächendeckend ohne Ausnahme für alle gilt, die ihn brauchen."

Bestandschutz und Abwehrkämpfe?

Auch wenn der Mindestlohn ausbaufähig ist, ist es gut, dass es ihn gibt. Aber eine Frage bleibt: Reicht uns Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern das? Am Ende ist der Mindestlohn eben auch nur eine gesetzliche Lohnuntergrenze, ein Mindeststandard. Tarifverträge standen einst für die Ausweitung gesetzlicher Regelungen. Dass Arbeitgeber durch gesetzliche Öffnungsklauseln zuletzt Tarifverträge immer häufiger dazu missbrauchen konnten, Standards zu unterlaufen, ist das Vermächtnis rot-grüner Politik. Das manche Gewerkschaftsführung in den Verursachern dieser Misere von einst noch immer ihre natürlichen Verbündeten sieht, führt zwangsläufig zu einem nicht unerheblichen Vertrauensverlust bei den noch vorhandenen Mitgliedern.

Bessere Arbeitsbedingungen gibt es nicht umsonst. Sie mussten schon immer erkämpft werden. Immer mehr Menschen wollen sich auch nicht mehr mit der zunehmenden Prekarisierung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen abfinden und organisieren sich. Im Sozial- und Erziehungsbereich (Aufwertung), in der Berliner Charité (Mindestpersonalbemessung) oder im öffentlichen Dienst (Befristungen) rückte die Frage der Arbeitsbedingungen ins Zentrum der Auseinandersetzung. Über das wofür, wie oft und wie sie streiken, wollen Beschäftigte mitentscheiden. Denn es nützt ihnen der beste Tariflohn nichts, wenn sie befristet in gezwungener Teilzeit damit nicht über die Runden kommt und am Ende des Gehalts noch so viel vom Monat übrig ist.

11,50 Euro gegen Altersarmut

Diesen Betrag nannte die Bundesregierung letztes Jahr der Fraktion DIE LINKE auf deren Nachfrage, wie hoch ein Stundenlohn sein muss, damit einem im Rentenalter der Gang zum Sozialamt erspart bleibt. Über die Frage der Anpassung des Mindestlohns entscheidet Ende Juni erstmalig die Mindestlohnkommission. Bislang fordert DIE LINKE eine Erhöhung auf mindestens 10 Euro, streitet für Umverteilung von Reichtum und kämpft gegen prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen. Auf die Frage, wie hoch der Mindestlohn sein muss, hat sie seit letztem Jahr die Antwort. Jetzt muss DIE LINKE sich nur noch trauen, dies auch laut zu fordern.

 Jan Richter ist Mitglied im Bundessprecher-Rat der BAG Betrieb & Gewerkschaft