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betrieb & gewerkschaft

Aus politischer und moralischer Sicht ist das unterlassene Hilfeleistung

Interview mit Harald Weinberg

In deutschen Krankenhäusern herrscht Pflegenotstand - es fehlen 100.000 Pflegekräfte. Immer weniger Beschäftigte müssen immer mehr Patientinnen und Patienten in kürzerer Zeit versorgen. Die Folgen: fehlende Zuwendung, mangelnde Hygiene bis hin zu mehr Komplikationen und Unfällen. Wir sprechen mit Harald Weinberg, Sprecher für Krankenhauspolitik und Gesundheitsökonomie der Bundestagsfraktion DIE LINKE, über die Verweigerung der Großen Koalition, das Systemversagen zu stoppen.

betrieb & gewerkschaft: In deutschen Krankenhäusern herrscht Pflegenotstand. Wie lässt er sich beseitigen?

Harald Weinberg: Das zentrale Instrument gegen den Pflegenotstand ist eine gesetzliche Personalbemessung, wie sie DIE LINKE gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di und verschiedenen Pflege- und Ärzteverbänden fordert. Dabei geht es um eine für alle Krankenhäuser verbindliche Quote, wie viele Kranke eine Pflegekraft maximal versorgen darf. Im Bundestag gibt es dafür aber bislang keine Mehrheit, obwohl die SPD die Forderung 2013 in ihr Wahlprogramm geschrieben hat.

Was unternimmt die Bundesregierung?

Sie verteilt Placebos und behauptet selbstgefällig, damit die Situation der Pflege zu verbessern. Anstatt eine gesetzliche Personalbemessung einzuführen, hat die Große Koalition im letzten Jahr ein mickriges "Pflegestellen-Förderprogramm" beschlossen, mit dem in den nächsten drei Jahren maximal 6.500 neue Stellen geschaffen werden. Der Pflegenotstand wird damit für viele weitere Jahre festgeschrieben. Aus politischer und moralischer Sicht ist das unterlassene Hilfeleistung - gegenüber den Beschäftigten, wie gegenüber den Patientinnen und Patienten.

Im letzten Jahr hat ver.di an der Berliner Charité für eine tarifliche Personalbemessung gestreikt. Ist das der Weg zum Gesetz?

Die Pflegestreiks für mehr Personal, die jetzt nach dem Modell der Charité bundesweit vorbereitet werden, geben Anlass zur Hoffnung. Sie haben das Potenzial, um bundespolitisch den Druck zu erzeugen, der für die Durchsetzung einer gesetzlichen Personalbemessung notwendig ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass durch einen Streik ein Gesetz erkämpft wird.

Du meinst die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die 1957 gesetzlich eingeführt wurde, nachdem Metallarbeiter erfolgreich für einen Tarifvertrag zur Lohnfortzahlung gestreikt hatten?

Genau, die damalige Adenauer-Regierung hatte eine gesetzliche Regelung bis dahin strikt abgelehnt. Aus Angst vor einem Übergreifen der Streikbewegung auf andere Regionen und Branchen wurde kein halbes Jahr nach dem Tarifabschluss das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle verabschiedet.

Die Verantwortung für die bevorstehenden Tarifauseinandersetzungen in den Krankenhäusern trägt die Bundesregierung. Die spannende Frage ist: Wie wird sie sich verhalten, wenn 15, 20 oder mehr Krankenhäuser für eine tarifliche Personalbemessung streiken?