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betrieb & gewerkschaft

Alle reden von Solidarität

Ulrike Eifler

In der Corona-Pandemie war ein Wort allgegenwärtig: Solidarität. Doch hinter den Appellen für gegenseitige Rücksichtnahme verbarg sich vor allem Individualisierung. Der einzelne war auf sich selbst zurückgewor­fen. Eltern wurden mit der Betreuung ihrer Kinder allein gelassen, während Spielplätze, Schwimmbäder, Sportvereine und Kinos dicht machen mussten. Schüler zu autodidaktischem Lernen gezwungen, obwohl die Schule sie nie darauf vorbereitet hatte. Tafeln geschlossen, Gottesdienste abgesagt. Für den zwischenmenschlichen Umgang wurde eine Zwei-Meter- Distanz festgelegt. Umarmungen zum Gruß, Trost oder Mutmachen gestri­chen und das Lächeln hinter Atemschutzmasken gezwängt.

Virologen gaben und geben den Takt für politisches Handeln vor. Dabei hätten Sozialmediziner so viel mehr zu erzählen: Über die Folgen der so­zialen Isolation in Altenheimen oder auf Krebsstationen, über die Opfer der häuslichen Gewalt, die Nöte der Arbeitslosen und die Existenzängste der­jenigen, die noch Arbeit haben.

Ihre Berichte würden jedoch ein politisches Handeln mit einer deutlichen Abkehr vom neoliberalen Kurs der letzten Jahre nötig machen: Die höhere Personalbemessung in Krankenhäusern ebenso wie den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, kleinere Schulklas­sen ebenso wie ein gut ausgestatteter öffentlicher Dienst. Berücksichtigte man das Votum der Sozialmediziner, wäre der Markt in weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr das alles bestimmende Element.

All das zeigt, wie dringlich eine Abkehr vom Neoliberalismus der letzten Jahre wäre. Der Kapitalismus steckt in seinen ökonomischen, sozialen, ökologischen und demokratischen Widersprüchen derart fest, dass sich sehr grundsätzlich Fragen nach gesellschaftlichen Alternativen stellen. Der linksliberale Journalist Jakob Augstein schrieb kürzlich, dass wir auf dem Weg in das Zeitalter der totalen Medizin seien und fragte, ob Maßnahmen für Keimfreiheit und Seuchenresistenz eine Gesellschaft lebenswert mach­ten. Augstein ging es keineswegs darum, die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen. Vielmehr versuchte er darauf hinzuweisen, wie sehr sich die Ge­sellschaft unter dem Eindruck des Virus zum Negativen verändert und dass es nicht etwa das Virus, sondern die politischen Maßnahmen sind, die uns in eine gesellschaftliche Katastrophe manövrieren. Das Handeln der Bun­desregierung braucht Opposition von links. Dabei muss sich die Kritik an den Verhältnissen mit der Vision von einer lebenswerten Gesellschaft ver­binden. Letztlich ist es ein Kampf um Kräfteverhältnisse und um die Frage, ob wir endlich den Weg aus dieser rücksichtslosen Gesellschaft herausfin­den, die Schwächere bedenkenlos zurücklässt. Und ob wir hineinfinden in eine Gesellschaft echter sozialer Gerechtigkeit und gegenseitiger Solidari­tät.

Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der AG Betrieb & Gewerkschaft