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Ältestenrat

Zur weiteren Vorbereitung des Erfurter Parteitages

Ein Positionspapier des Ältestenrates

Die mit der Corona-Pandemie entstandene Situation machte es erforderlich, den Bundesparteitag auf den 30. Oktober 2020 bis 1. November 2020 zu verschieben. Wir alle hoffen und wünschen, dass eine weitere Verlegung nicht eintreten muss. Die angelaufenen Maßnahmen und Bemühungen zur Vorbereitung und zur Gestaltung des Parteitages sind auf gute Bedingungen für seinen Verlauf und den Beratungen gerichtet. Allen daran Beteiligten herzlichen Dank! Mit den vielfältigen krisenhaften Erscheinungen in der Gesellschaft, dem Gesundheitswesen, der Wirtschaft und der Politik, hervorgerufen und offengelegt durch die Corona-Pandemie sind völlig neue Herausforderungen weltweit und auch in Deutschland entstanden. Die notwendige Verschiebung des Parteitages bringt Zwänge bei der Einhaltung des Statuts der Partei, für seine inhaltlichen Beratungen, seine Beschlussfassung und die demokratische Vorbereitung und Durchführung seiner Wahlen. Der Parteitag wird zeitlich näher zu der Bundestagswahl 2021 stattfinden, die stark im Zeichen des Verlaufs der Auswirkungen der Corona-Pandemie stehen werden.

Trotz der Einschränkungen dieser Zeit haben Mitglieder und Vertreter der Partei DIE LINKE zum 75. Jahrestag der Befreiung an den Gräbern und Denkmalen der Alliiertenstreitkräfte den Befreiern des deutschen Volkes sowie der Völker Europas vom Joch des Faschismus gedacht. Der Ältestenrat und seine Mitglieder haben in Berlin den Soldaten der Roten Armee und den Völkern der Sowjetunion, die in ihren Reihen kämpften Dank und Ehre erwiesen. Wenn der Präsident der Bundesrepublik Deutschland in einer Rede am 8. Mai in Berlin die Worte „Rote Armee“ nicht über seine Lippen bringt ist das nicht geschichtliches Unwissen sondern nur als politische Absicht mit gefährlichen Zügen in einer Zeit, die Achtung und Vertrauensbildung erfordert, zu verstehen.

Der Bundesausschuss und der Ältestenrat haben ihre Bemühungen für eine Strategiedebatte fortgesetzt. Zur Kasseler Konferenz lagen weit über 500 Seiten Diskussionspapier vor und hunderte Mitglieder nahmen an der Basis und auf der Konferenz daran teil. Was aktuell geschieht, spricht kaum für dessen Beachtung. Am 16. Mai 2020 auf der Video-Beratung des Parteivorstandes sollte die Strategiefrage als TOP 5 beraten werden. Die vorliegende Informationsvorlage wurde dann unter vielfältigen anderen aktuellen Fragen diskutiert. Was nun wirklich gilt und geschehen soll, ist nach der Beratung offen. Sind die Vorschläge zur strategischen Positionierung der LINKEN von Katja Kipping, Bernd Riexinger, Harald Wolf und Jörg Schindler, die gegenwärtige Gruppe der Spitzenfunktionäre der Partei, ein Bewerbungspapier für die Wahlen auf dem Parteitag oder stellt der Parteivorstand es als sein Papier in den Mittelpunkt einer Parteidiskussion zur Vorbereitung und Beschlussfassung als demokratischen Prozess für die Entscheidungsfindung auf dem Parteitag?

Die Aufmerksamkeit für das Thema Europa sollte auch im Prozess der Vorbereitung und der Beratungen des Parteitages entsprechende Aufmerksamkeit finden. Bei den Entscheidungen und politischen Auseinandersetzungen haben auf der Ebene der EU die Linksparteien mit ihrem politischen Gewicht leider keine Bedeutung.

Der Ältestenrat wird sich im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten und seiner Rechenschaftspflicht bemühen, an der weiteren Vorbereitung des Parteitages mitzuwirken.

1. Sind wir Partei oder wollen wir Bewegung sein?

Nur als Partei können wir im Bundestag und den Landtagen als politische Kraft und als Vertreterin von Interessen breiterer Wählerschichten sein. Mit welchem „Gebrauchswert“ für die soziale Gerechtigkeit, für Frieden und gegen Krieg, für Demokratie, mit alternativen Positionen gegen aktuelle Verhältnisse und für einen Wechsel der gesellschaftlichen Verhältnisse hin zum demokratischen Sozialismus oder zur Verbesserung des gegenwärtigen Kapitalismus treten wir in Erscheinung? Das erfordert eine reale Analyse der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft, der Kraft und des Platzes der linken Kräfte als Partei in der Gegenwart und in Bewegungen. Das Statut bestimmt das pluralistische Wesen unserer Partei. Es kann uns als Raum für Vielfältigkeit in der Suche nach Zielstellung stärken und es kann durch die Vertiefung von Gegensätzen große Einschränkungen in der Handlungsfähigkeit bringen. Mit dem Parteitag bietet sich die Chance, den Kurs auf Stärkung der Partei zu nehmen.

2. Die Situation in den Gesellschaftsverhältnissen wird mit der Corona-Krise und ihren allseitigen Wirkungen eine andere sein.

Das Gesellschaftssystem wird sich bei den Bundestagswahlen 2021 in einem Prozess der Veränderungen befinden. Akkumulationskrisen gehören seit jeher zum Erscheinungsbild des Kapitalismus. Die gegenwärtige Krise ist einzigartig: Nach einer fatalen Phase des Zögerns ordneten Regierungen auf der ganzen Welt umfassende Lockdowns an, um die tödliche Pandemie einzudämmen. Die auf Wachstum ausgerichtete Weltwirtschaft wurde schlagartig abgewürgt, sodass die weltweite Wirtschaftsleistung 2020 zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpfen wird. Nicht nur Europa und die USA wurden zum Stillstand gebracht, sondern auch boomende Schwellenländer in Asien, während Rohstoffexporteure in Lateinamerika und Subsahara-Afrika vor zusammenbrechenden Absatzmärkten stehen. Noch nie zuvor hat die kapitalistische Weltwirtschaft auf einen Schlag einen Schock dieses Ausmaßes erlebt.  Eine schwere globale Rezession ist  unvermeidlich. Um den Lockdown zu überleben, sind Millionen von Familien und Unternehmen  auf staatliche Zuschüsse und Darlehen angewiesen. Auch die Steuereinnahmen sind eingebrochen, also brauchen die Staaten ebenfalls Kredite. Deshalb werden wir derzeit den größten Anstieg der Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. Erneut liefern Banken, Finanz- und Geldmärkte den finanziellen Treibstoff für die kapitalistische Akkumulation. Die Erfahrungen der Großen Finanzkrise von 2008 haben gezeigt: Die später fällige Abrechnung ist mit einer massiven Verschärfung der  sozialen Ungleichheit verbunden. Mit hohen  Staatsausgaben versuchen Regierungen und mit extremen Interventionen der zentralen Notenbanken einen Kollaps des Systems  zu verhindern. Die gewaltigen Maßnahmen, mit denen in den letzten Wochen das Wirtschaftssystem gestützt wurde, kann man als Erfolg bewerten, wenn auch bloß als Erfolg in der Defensive. Wieder einmal wird ein zerbrechliches, gewinnorientiertes System gestützt, um Schlimmeres zu verhindern. Es handelt  sich um einen Erfolg von begrenzter Reichweite. Für Strukturveränderungen bestehen keine gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Die erste Anforderung an die Linke ist daher: Es kann nicht erneut um die bloße Reparatur des überlieferten wirtschaftliche Systems des Hyperkapitalismus gehen. In der globalen Welt wachsen die Gegensätze mit großen Gefahren für den Frieden und dem realen Zusammenhalt der Kooperationsketten in Wirtschaft, Begegnungen und Kultur. Die Europäische Union wird sich noch in Zerreißproben befinden. In der BRD wird sich mit den Tendenzen zur Rettung des realen Kapitalismus der soziale Zerfall, mit wachsenden Gegensätzen zwischen Reichtum und Armut vertieft, fortsetzen. Sich darauf einzustellen ist die Forderung. Der während der Krise aufgehäufte Berg von Schuldverschreibungen enthält die künftige Aufgabenstellung, wie und wer soll die Rechnungen für den Treibstoff des Hyperkapitalismus begleichen? Die Antwort entscheidet über das Ausmaß der sozialen Spaltung, über die Qualität unserer öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen für die kommenden Jahre, d.h. über die Lebensqualität der künftigen Generationen. Wenn wir für dieses Problem keine sozialistische Antwort bereit halten, werden die Schulden aus der Pandemiebekämpfung zum Folterwerkzeug einer erneuerten Spar- und Umverteilungspolitik.

3. Die gesellschaftlichen und sozialen Kämpfe, die vor uns liegen werden, werden Sache der Gewerkschaften und einer Vielfalt von Bewegungen sein.

Selbst Initiator oder Verbündeter in Bewegungen zu sein, wird die schnell wachsende Herausforderung sein. Hier Forderungen zu stellen, selbst Gesicht zu zeigen, kann Teil einer weiteren Stärkung der Partei sein. Die Volksvertretungen in Städten und Gemeinden werden, wie noch nie nach der Beseitigung der Zerstörungen des 2. Weltkrieges, herausgefordert sein. Hier, an der Basis der Gesellschaft tritt eine neue Herausforderung ein, die es zur Sache der ganzen Partei zu machen gilt.

4. Wie weit die Feststellung von Jörg Schindler, von einem qualitativen Sprung der Zusammenarbeit und der Vermittlung des Themas Europa nach außen mit linker Politik berechtigt ist, sollte auf dem Parteitag geprüft und sichtbar gemacht werden.

Die politische Krise sowie die Wirtschaftskrise werden die Europäische Union wie bisher noch nie erfassen und bis an die Grenze des Zerfalls vieler Elemente führen. Der militärische Faktor wird wachsen und Forderung nach Bewaffnung und Kriegsführungsfähigkeit stellen. DIE LINKE ist gefordert, sich dem mit eigener Konzeption und Wirksamkeit entgegenzustellen.

5. Wie die Erzählung über Vorschläge zur strategischen Position der LINKEN nach Meinung ihrer Verfasser verstanden werden soll, in der Öffentlichkeit, so nehmen wir es vom Ältestenrat auch wahr, ist sie in ihrer ganzen Zielstellung auf Rot-Rot-Grün auf Bundesebene ausgerichtet.

Welche Worterfindungen, Umschreibungen und Ansagen auch gesucht und gewählt wurden, selbst die Betonung von bestimmten Erfahrungen blendet eine reale Analyse aus. Die Ergebnisse werden überzeichnet und Misserfolge weitgehend ausgeblendet.  Erst das Maß für Anpassung setzen und dann den Raum fürs Mittun erfüllen, kann kein Streben nach Politikwechsel tragen.

6. Dreissig Jahre nach dem Beitritt der DDR, auf der Basis des Artikels 23 des Grundgesetzes der BRD, zeigen Fakten große Ungleichheiten und politischen Geschichtsmissbrauch in einem Prozess der zum Anschluss geworden ist, ganz wesentliche Züge einer tiefen "Zweiheit".

Sie sind auch durch jährliche Berichte mit der Tendenz einer Schönfärberei nicht zu vertuschen. In der alten BRD sind Einsatz und Aufwendungen für die "Aufarbeitung" der Zeit des Faschismus nie so groß und aufwendig gewesen, wie die Betrachtungen zur DDR. Bis heute fehlt der Ansatz und Auftrag die gesamtdeutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart darzustellen. DIE LINKE läuft Gefahr, ihre Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern in den östlichen Ländern durch Anpassung an Verfälschungen von Geschichte und historischen Abläufen, bei der Vertretung ihrer Interessen, Zustimmung zu verlieren.

"Zeitenwende" bleibt leeres Gerede, wenn historischen Vorgängen ausgewichen wird.

Fazit:

Manche unserer Beschreibungen der strategischen Felder und der daraus abzuleitenden Fragestellungen und daraus formulierten Herausforderungen mögen zugespitzt erscheinen.

Möglich, aber unüberschaubar, wird sich eine Zäsur in der Nachkriegsentwicklung vollziehen. Erst 45 Jahre Nachkrieg, mit Kalter Kriegsführung, dann 30 Jahre vom größeren Deutschland zum Groß-Deutschland mit verbrämten Forderungen nach Verantwortung was europäische Führung sein soll. Jetzt werden tiefe Widersprüche des realen Kapitalismus sichtbar und neue Gegensätze brechen mit Folgen für soziale Gerechtigkeit, Frieden sowie für Abbau von Demokratie im System der Gesellschaft auf.

DIE LINKE wird ihr Profil und ihren Platz zu suchen haben und neu bestimmen müssen.

Ein Vorgang, der mit der Bundestagswahl und den davor liegenden Landtagswahlen aus dem realen Geschehen vor allen Parteien steht. Es wird einen Richtungswahlkampf mit neuer, politischer Schärfe geben. Es wird in allen Parteien, vor allem bei der Aufstellung der Listen für den Bundestag, um Plätze im Parlament und die Bildung von Strukturen der politisch herrschenden Klasse gehen.

Der Erfurter Parteitag wird in Zeiten einer politischen Zäsur beraten. Ob er diesem Zeichen gerecht wird, ist die Herausforderung, der wir uns gewollt oder nicht gewollt, zu stellen haben.

DIE LINKE muss sich selbst die Frage stellen: "Wer will sie sein?", "Was will sie tun?", um damit ihren Platz in der Gesellschaft zu bestimmen. Mit den Zielen und den Interessen, die sie für breite Volksmassen vertritt, muss sie Vertrauen und Zustimmung gewinnen.