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Ältestenrat

Zur Bundestagswahl und die neuen Herausforderungen im politisch-gesellschaftlichen System der BRD

Positionspapier des Ältestenrates

1. Ähnlich wie in den europäischen Nachbarländern haben die Bundestagswahlen insgesamt gesehen eine unübersehbare Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse nach rechts sichtbar gemacht.  Schon im Herbst 2016 rutschten die Zustimmungswerte für die Unionsparteien deutlich ab. Die CDU/CSU hatte keine Chance mehr, das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 von 41,5 % zu halten. Da sich außerdem erfolgreiche Kandidaturen von FDP und AfD abzeichneten waren Verluste für die führenden Parteien des bürgerlichen Lagers zu erwarten. Gleichwohl war das Ausmaß der massiven Verluste in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen überraschend. Die Alternative für Deutschland ist nicht nur in Ostdeutschland sehr stark geworden. Auch in vielen Wahlkreisen in Bayern wurde die AfD zweitstärkste Partei. Die Doppelstrategie der Union zwischen einer liberal-konservativen und einer national- restriktiven Flüchtlingspolitik hat beim Wähler nicht verfangen.

2. Dieser Rechtsruck wird weitere Folgen haben. Die CSU und die rechtskonservative Strömung in der CDU drängen auf eine Blockierung ihrer offenen rechten Flanke durch eine programmatische Erneuerung. Die Rückkehr der r wirtschaftsliberalen FDP  auf die politische Bühne läuft auf   eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch weitere Deregulierung sozialstaatlicher Regulierungen und Privatisierungen hinaus. Mit dem Einzug der AfD als drittstärkster Kraft in den Bundestag ist der in weiten Teilen Europas sowie in Nordamerika unübersehbare  Trend zu Wahlerfolgen von rechten Bewegungen und Parteien auch in Deutschland angekommen.  Durch die Stärke und die Rolle der BRD wird diese Rechtstendenz weitere Impulse  erhalten. Diese europäische Dimension blieb im Wahlkampf weitgehend unbeachtet, was auch für DIE LINKE gilt.

Nach der Bestätigung einer konservativ-rechtspopulistischen Regierungskoalition in Norwegen müssen wir mit entsprechenden Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in Österreich, Tschechien  und Anfang 2018 in Italien rechnen.

3. Die  zeitweilig überraschend hohe Zustimmung für den SPD-Kandidaten Schulz kann nicht darüber  hinwegtäuschen, dass nicht nur die deutsche sondern die europäische Sozialdemokratie in einer tiefen Krise steckt. Krise der Sozialdemokratie ist also kein vorübergehender oder einfach umzukehrender Wahltrend.  Mit dem dramatischen und äußerst innovativen Strukturwandel der Wirtschaft, die in den meisten europäischen Ländern den Industrieanteil auf nur noch 10 bis 20 Prozent der Wirtschaftsleistung gedrückt hat,  ist der Sozialdemokratie  ihr  soziales Milieu – also der Kern ihrer Anhängerschaft – zum großen Teil verloren gegangen.  Es ist der europäischen Sozialdemokratie nicht gelungen, ihre wegbrechenden Existenzgrundlagen durch neue Ideen und Projekte mit ähnlicher Anziehungskraft zu ersetzen. Die Folge ist die anhaltende Erosion ihrer Wählerschaft und ihrer Machtbasis.

Die Partei Bündnis 90/ Grüne konnte ihre regional höchst unterschiedlichen Ergebnisse leicht ausbauen.

Die Linkspartei  verfehlte ihr Ziel deutlich, erneut drittstärkste Kraft zu werden. Sie hat in allen ostdeutschen Flächenländern gegenüber 2013 spürbar an Zuspruch verloren, und zwar so gleichmäßig, dass es kaum mit Erfahrungen der Wähler in den einzelnen Ländern zusammenhängen kann. Im Westen dagegen lag die Linkspartei durchweg über fünf Prozent, zum Teil sehr deutlich über ihren bisherigen Ergebnissen bei Bundestagswahlen. Sie hat sich im schwierigen Südwesten aus dem Milieu der Splitterparteien herausgearbeitet. Sie kommt daher  auf ihr bisher zweitbestes Ergebnis bei Bundestagswahlen überhaupt. Bei den absoluten Zahlen hat es ein deutliches Plus gegeben.

Politisch von weiterreichender Bedeutung ist der weitere Aufstieg der AfD. Die rechtspopulistische Partei hat 12,6% der Stimmen erreicht und damit im Vergleich mit der Wahl von 2013 ihr Ergebnis um 7,9 Prozentpunkte verbessert. Sie konnte rund 1,2 Millionen NichtwählerInnen mobilisieren, der Union nahm sie eine Million WählerInnen ab, der SPD eine halbe Million und der LINKEN 400 000.

Die Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft nach Rechts erfordert eine umfassende gesamtgesellschaftliche Analyse und sollte nicht nur auf die AfD ausgerichtet sein. Obwohl die LINKE bei der Wahl Erfolge erzielen konnte plädieren wir für eine selbstkritische Bestandsaufnahme und solidarische Diskussion in der Partei mit dem Ziel einer Stärkung der strategischen Zielsetzungen. Die Linkspartei kämpft für eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung der Republik, d.h. auch für eine Demokratisierung der Wirtschaftsordnung. Je mehr das politische Klima  von den Themenfeldern der erstarkten Rechten geprägt wird, umso mehr und notwendiger stellen sich für DIE LINKE die Fragen nach unseren Gegenargumenten  und mittelfristigen und grundsätzlichen Strategien zur Veränderung der Kräfteverhältnisse sowie zu unseren sozialistischen Zielen. Eine vertiefte Analyse und Kritik des globalen Kapitalismus sollte angestrebt werden, denn mit der Politik des >America first< und dem britischen Austritt aus der EU wird die Auflösung der Nachkriegsordnung des kapitalistischen Westen zunehmen. Die europäischen Länder kommen nicht umhin zu akzeptieren, dass mit Trump und dem Brexit eine politische und soziale Zeitenwende eingeleitet wurde. Gefordert ist  eine selbstkritische Analyse, in der die Widersprüche in der Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Flüchtlingspolitik aufgearbeitet werden und im breiten gesellschaftlichen Diskurs eine Verständigung auf eine eigenständige europäische Alternative verfolgt wird.

4. Der Aufwärtstrend des Rechtspopulismus ist Resultat mehrerer Faktoren: Die Fluchtbewegung nach Deutschland oder Österreich hatte eine Katalysatorfunktion. Die Grundkonstellation ist die aufgestaute immense Wut eines Teils der Bevölkerung, die längst vor der verstärkten Fluchtbewegung ausgebildet war und  nicht nur die BRD erfasste . Die spezifischen nationalen Färbungen entstehen vornehmlich als Resultat von Schwächen des politischen Systems, autoritärer kultureller Mentalitäten sowie ökonomisch sozialer Enttäuschungs- und Ungerechtigkeits-Erfahrungen, die von einem mehr oder weniger langen etablierten Angebot an rechtspopulistischen Strömungen und Parteien gebündelt und verstärkt werden. Der Rechtspopulismus ist eine Reaktion auf die Krisenkonstellation in den Finanzmarkt dominierten kapitalistischen Gesellschaften. Mit der Ausweitung der Zahl der Zufluchtsuchenden im Spätsommer 2015 nach Deutschland und Teilen Europas erhielt die fremdenfeindliche Ausrichtung der AfD weiteren Auftrieb. Gleichzeitig bleiben die Kritik am Establishment, die Europa-Kritik und die Ablehnung des Multikulturalismus zentral. Neben der Abwehr von den als fremdbestimmt ausgemachten supranationalen europäischen Institutionen zielt die Argumentation der Rechten  auf eine Ablehnung der »Islamisierung des Abendlandes «.

Die globale Migrationsbewegung und die europäische Flüchtlingskrise macht die neuartige Spaltung sichtbar: zum einen das Volk, das als homogene Gemeinschaft guter, anständiger, patriotischer, hart arbeitender, gesetzestreuer Deutscher dargestellt wird; zum anderen die korrupte, parasitäre, das Volk bewusst verratende Elite, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Die wachsende soziale Polarisierung, das Gefühl, dass sich die individuellen Anstrengungen nicht mehr lohnen  und die Zukunftsperspektiven der Kinder verbaut sind, sowie  der Eindruck, dass die politische Klasse sich darum nicht kümmert, sind wesentliche Faktoren für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Gesellschaftliche Basis für den Rechtspopulismus ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl chronischer Ohnmacht gegenüber erlittener Benachteiligung zugrunde. Die Mobilisierung der Rechtspopulisten ist auch 2017 immer noch begrenzt und bei guter und glaubwürdiger sozialer Politik in Deutschland und Europa einzudämmen.

5. Die SPD steht von allen Parteien am stärksten vor einer Neufindung. Folgt sie der Tendenz des Zerfalls der sozialdemokratischen Bewegung, die sich in Osteuropa weitgehend vollzogen hat und in der Tendenz in Westeuropa (z. B. in Frankreich) auch vollzieht oder wird sie an eigene Traditionen anknüpfen? Angesichts der gewachsenen und wohl weiter zunehmenden Stärke einer Rechtsentwicklung wird ein neues Verhältnis zwischen der SPD und der LINKEN zu einer historischen Herausforderung.

Die sozialstaatliche Modernisierung des Kapitalismus war lange Zeit das Markenzeichen von SPD und der europäischen Sozialdemokratie insgesamt. Die Veränderungen innerhalb  der arbeitenden Klasse beförderten die Illusionen der neuen Mitte. Der Versuch der europäischen Sozialdemokratie, mit einer gemäßigten

Deregulierung, Privatisierung und Eigentumspolitik in Absetzung von den sozialdemokratischen Grundwerten einen dritten Weg bei der Gestaltung des Kapitalismus durchzusetzen, ging gründlich schief. Die Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme mündete in neuen Formen sozialer Ungleichheit.

Das Wahlergebnis zeigt, dass Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit für einen großen Teil der WählerInnen ein Thema sind. Obwohl eine deutliche Mehrheit der Befragten sagt, dass es ihnen gut gehe, sorgen sie sich um soziale Gerechtigkeit. Vier von zehn WählerInnen finden, dass soziale Gerechtigkeit ein sehr großes Problem in Deutschland ist. Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit in der »Berliner Republik« geht im Kern auf die politisch verursachte Entwertung und Entgrenzung der Lohnarbeit zurück. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu deren partiellen Entwertung und zu einem Zuwachs prekärer Arbeitsverhältnisse.

Die SPD verliert sich bei ihren Alternativen in vielen kleinen Änderungsvorschlägen und verfügt über keine gesellschaftspolitische Gesamtkonzeption. Eine ähnliche Schwäche zeigt auch die Linkspartei.
Sollte die SPD die Kraft haben, in der Opposition (die von der Parteibasis getragen wird) Ansätze zu einer Erneuerung zu gehen, läge darin auch eine Chance, die bisher durch die deutsche Sozialdemokratie blockierte Erneuerung der europäischen Sozialdemokratie in Angriff zu nehmen. Etwas euphemistisch formuliert: Corbyn und die britische Labour Partei würden kontinentale Bündnispartner gewinnen. D.h. die Doktrin, zu sparen, um den Staatshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, ist endgültig passé; es geht um Zukunftsinvestition unter staatlicher Regie von der Infrastruktur über Schul- und Gesundheitswesen, Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns bis zum Sozialwohnungsbau.

DIE LINKE müsste ihren Kräftezuwachs im Westen auf- und annehmen. Sie muss aber auch ihre Bereitschaft bekunden und entwickeln, in den  Grundfragen und strategischen Orientierungen  Korrekturen anzustreben. Ein Zuhören reicht hier nicht aus. Ein aufeinander zugehen mit Schlussfolgerungen und Veränderungen ist die Voraussetzung für wachsende Stabilität und notwendigen gesellschaftlichen Fortschritt. Ohne Abstriche an einer relativen Stabilität und differenzierten Fortschritten ist eine kritisch-konstruktive, offene und mit gegenseitiger Achtung geführte Grundsatzdebatte in allen Leitungsorganen und in und mit der Mitgliedschaft erforderlich.

Im Westen und noch mehr im Osten steht DIE.LINKE vor einer Prüfung ihres Verhältnisses zu den vielfältigen sozialen  Bewegungen. Allein die Mitgliederbewegung wird das Fehlen der Partei in der Fläche und im ländlichen Raum nicht abfangen und ausgleichen können.

Dringend geboten ist eine Aufarbeitung der letzten 27 Jahre im Hinblick auf die ökonomische, politische, soziale und kulturelle Lage und Befindlichkeiten der Bevölkerung in den Neuen Bundesländern. Die immer noch vorhandenen Diskrepanzen von Einkommen und Renten sowie die Vernachlässigung ganzer Regionen vor dem Hintergrund des Versprechens "blühender Landschaften" schafft nach den Erfahrungen der letzten Jahre den Nährboden für rechtsradikalen Protest.

Die staatlich verordnete Erinnerungskultur drängt die Verbrechen des deutschen Faschismus und die Tradition des antifaschistischen Widerstandes immer mehr aus Geschichtsbetrachtungen und verstärkt eine Gleichsetzung der DDR mit der Formel „der 2 Diktaturen“ mit dem 3. Reich. Eine Linke, die sich diesem mehr und mehr beugt, enttäuscht nicht nur größere Teile ihrer ostdeutschen Wählerschaft sondern lässt Freiräume für Verherrlichung faschistischer Ideologien.

Auch der deutsche Staat, mit ihm das gesellschaftliche und unternehmerische Leben, hat sich  mehr und mehr aus dem ländlichen Räumen – jedoch nicht ausschließlich  des Ostens - zurückgezogen und vielerorts Brachland zurückgelassen. Dagegen anzukämpfen, ist vordringliche Aufgabe der BürgerInnen. Aber: Ohne Anerkennung und politische Unterstützung durch ein breites Bündnis kann dies nicht gelingen. Die linken Kräfte innerhalb wie außerhalb des Parlaments dürfen nicht nachlassen, mit eigenen Vorstellungen und dem notwendigen Druck diese Prozesse einzufordern und voran zu treiben.