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Ältestenrat

Die Welt ist in Aufruhr

Thesen von Dr. Thomas Falkner für die Diskussion im Ältestenrat

1. Die Welt ist in Aufruhr. Die über Jahrzehnte vertraute Weltordnung löst sich auf. Geopolitisch wie sozialökonomisch und kulturell. Die westlichen Gesellschaften, der weltweite Kapitalismus befinden sich in einer Situation wie lange nicht - geprägt von tiefen Widersprüchen, breit gefächerten Gegensätzen und explosiven Spannungen, erfasst von elementaren technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen. Der Versuch, darauf offensiv zu reagieren, bricht sich an den Realitäten in der Welt wie intern. Wir erleben eine Zäsur, die ähnlich tiefgreifend ist wie die von 1945 und wie die von 1989 bis 1991.

Das alles hat bestimmende Auswirkungen auf Stellung und Aufgaben der Linken in der westlichen Welt wie der LINKEN in Deutschland. Weder die Dramatik der Lage noch ihre Genesis sind bislang hinreichend aufgearbeitet und verstanden; an nach vorn weisenden Schlussfolgerungen mangelt es.

2. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildete sich in den späten 1940er Jahren eine auf wechselseitigen Unversöhnlichkeiten beruhende bipolare Weltordnung heraus, die ihr Spiegelbild auch im Inneren der Gesellschaften hatte. Mit dem Kalten Krieg balancierte die Menschheit nah am Rande eines nuklearen Weltkrieges. Die Rivalitäten wurden teils abgeleitet in Stellvertreterkriege in der “Dritten Welt”. Deutlich wurde aber auch, dass selbst härteste Spannungen durch die Herstellung von Balancen zum gegenseitigen Vorteil beherrschbar bleiben können, sofern sich auf beiden Seiten politische Vernunft und Verantwortungssinn über ideologische Zuspitzungen hinwegsetzen. Auch das gehört zum Erbe der modernen Linken.

3. Diese bipolare Nachkriegswelt existierte bis 1989 und löste sich bis 1991 mit dem Ende der UdSSR komplett auf.  Der Westen sieht sich zunächst nicht nur als Sieger der Geschichte, sondern man wähnt sich damit sogar am Ende der Geschichte (F. Fukuyama). Der Neoliberalismus setzte sich als sozialökonomisches Leitbild durch.

Die Linke in all ihren Facetten war ins Mark getroffen.  Teile von ihr verschwanden von der Bildfläche, anderen gelang die Neuformierung - allerdings in den unterschiedlichsten Richtungen. Die PDS ging aus dieser Neuformierung mit einem antistalinistischen Grundkonsens hervor. Sie führte eine eigene sozialismus-kritische Debatte - ohne allerdings zu einem eigenen, neuen programmatisch untersetzten Sozialismus-Konzept zu gelangen. Politisch schrieb sich die PDS die Verteidigung des Sozialstaats auf die Fahne; programmatisch kam die Idee des sozial-ökologischen Umbaus auf. Ihren Platz im deutschen Parteiensystem fand die PDS als ostdeutsche Regionalpartei, getragen im wesentlichen von der ehemaligen DDR-Dienstklasse (M. Brie).

4. Mit dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ging das “Ende der Geschichte” zu Ende. Die 2008 ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise brachte das neoliberale Modell und den finanzwirtschaftlich getriebenen Casino-Kapitalismus ins Wanken. Die Globalisierung erreichte ein hohes Niveau - und ist kapitalistisch dominiert. Einerseits zieht das Kapital auf der Suche nach günstigsten Verwertungsbedingungen unstet um den Globus, andererseits bestimmen einige wenige globale Großkonzerne sowie weltweit agierende Finanzinvestoren Tempo und Richtung der Entwicklung. Dabei wird die neue Entwicklungsetappe von zwei Haupttrends bestimmt:

  • Einerseits durch ein exponentielles Wachstum von Innovationen (und damit verbundenen disruptiven Prozessen) auf der Basis von Digitalisierung/Künstlicher Intelligenz,
  • andererseits durch die Klimakrise und den zunehmenden Trend zur Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Die ökonomische Vormacht der Exportnation Deutschland insgesamt geht an China verloren, in der Digitaltechnik hinkt das Land den USA und ebenfalls China hinterher und der Automobilsektor - bislang das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und ihrer Exportkraft - ist ins Trudeln geraten. Die EU, auf die sich die deutsche Politik und Wirtschaft stets besonders bezogen haben, ist durch den Brexit beschädigt und durch interne Auseinandersetzungen geschwächt. In diesem Kontext stehen außen- und sicherheitspolitische Vorstöße , die auch Befürchtungen wecken, Deutschland mache sich auf den Weg zu Großmacht-Ambitionen, gar zu einer neo-wilhelminische “Weltpolitik”. Gerade in diesen Tagen soll der sogenannte “Münchner Konsens” von 2013 [1] neu belebt werden, wonach sich Deutschland in militärische Auseinandersetzungen “früher, entschiedener und substantieller einbringen” soll. Die Erfüllung des NATO-Ziels wird forciert, jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung zu stecken - fast eine Verdopplung.. Im Jahr 2019 erhielten deutsche Unternehmen Genehmigungen für Rüstungsexporte im Umfang von 8 Mrd. € - so viel wie noch nie.

Sowohl die Phase neoliberaler Dominanz als auch deren Krise und die beginnende Neuorientierung haben einerseits ihre sozialen Opfer - andererseits überfordern die damit verbundenen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse und parallelen kulturellen Veränderungen viele Menschen. Der Kapitalismus hat dagegen bislang kein Konzept; die demokratischen Parteien, auch und gerade die linken, sind ratlos. Der Rechtspopulismus erstarkt. Nicht nur die sozialökonomischen Verhältnisse sind aufgebrochen - auch das gesellschaftspolitische Institutionengefüge wankt (pluralistische Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte …). Sozialkonservatismus allein ist darauf keine Antwort. Für DIE LINKE kommt es jetzt darauf an, ihre historisch tradierten Anliegen nicht nur wieder und wieder analytisch zu unterlegen, sondern sie in zeitgemäße, breit verständliche und praktikable politische und mobilisierende Positionen zu übersetzen.

5. Damit korrespondieren auch die deutlichen Veränderungen in der politischen Landschaft Deutschlands. Aus dem Parteiensystem der alten Bundesrepublik mit zwei großen Volksparteien (CDU/CSU und SPD) sowie einem kleiner Korrektiv bzw. “Zünglein an der Waage” (FDP) wurde zunächst ein fragiles Lager-System (“bürgerlich” vs. Rot-Grün) und schließlich heute ein parlamentarisches Spektrum von sieben Parteien (Union, SPD, Grüne, FDP, LINKE, Freie Wähler und AfD). Regierungsfähige Mehrheiten sind dadurch weder durch ein “Zünglein an der Waage” noch durch Rechts-Links-Lager-Logik zu erreichen - eine ganz andere politische Flexibilität und ein deutlich ausgeprägteres politisch-programmatisches Selbstverständnis, insbesondere bei der Linken, sind erforderlich.  Das betrifft auch die Frage, wie sich DIE LINKE darauf einstellt, dass die derzeitige “Große Koalition” unter Kanzlerin Merkel ihrem Ende entgegen geht. Ist das - verspätete - Setzen auf “r2g” eine tragfähige, eine realistische und vor allem eine ausreichende Antwort? Sowohl auf Bundes- wie Landesebene wird ein bloßer Austausch der Regierungspartner nicht ausreichen. DIE LINKE muss sich in einem solchen Fall der als der entscheidende Faktor für eine programmatische Erneuerung der Politik insgesamt beweisen.

6. Der bevorstehende Bundesparteitag muss Position beziehen, muss politische Antworten geben und Wege eröffnen. Wir brauchen eine konstruktive, schwerpunktorientierte, die Partei zusammenführende strategische und programmatische Debatte. Kassel kann dafür ein Auftakt sein.

Aus unserer Sicht geht es um folgende Schlüsselfragen:

  • Wie bewerten wir die inneren und äußeren Verwerfungen im kapitalistischen System? Was sind für uns die Schlüsselmomente - und welche Auswirkungen haben sie auf die Menschen? Welche Bedürfnisse und Interessen entstehen - und wo macht sich eine linke Partei zum Fürsprecher und Vorkämpfer? Welche Folgen ergeben sich aus all dem für den Platz der LINKEN in einem Sieben-Parteien-System, in dem die entscheidende, aber nicht einzige Lager-Grenze (noch - ?) die zwischen den demokratischen Parteien und der AfD ist?
  • Wie ordnet sich das Thema Ostdeutschland in die aktuelle Situation der westlichen Gesellschaften ein? Welche Bedeutung muss es daher für DIE LINKE insgesamt haben? An welche sozialen Trägergruppen wenden wir uns dabei besonders? Gibt es Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten an soziale Gruppen auch im Westen?
  • Der antistalinistische Grundkonsens der PDS, der auch als eine der Grundvoraussetzungen des Zustandekommens der heutigen LINKEN galt und gilt, war kein antisozialistischer Grundkonsens. Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus ist es möglich und notwendig, das Sozialismus-Bild über die Kritik des Staatssozialismus, auch über eine differenzierende Kritik hinaus, zu öffnen und für die heutigen Zeiten weiter zu entwickeln. Das verlangt aber auch mehr als bloßen Antikapitalismus. Und es verlangt eine Klassenanalyse, die über das Kriterium abhängige Beschäftigung hinausgeht und den Platz der Menschen in den modernen Wertschöpfungsprozessen wie auch ihre kulturelle Verankerung in der Gesellschaft stärker berücksichtigt. Der Radikalität der Kritik am Kapitalismus muss die Radikalität der Gestaltungsaufgaben in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart folgen. Wie nehmen wir also auf die Gestaltung der laufenden Umbrüche so Einfluss, dass am Ende Wohlfahrt für alle und Schutz des Planeten gesichert sind? Wie kommen wir mit all jenen zusammen, die das auch wollen? Wie überführen wir all diese Anliegen in wirksame Politik?