Europa und die Finanzkrise
Sahra Wagenknecht
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist auch eine Krise des neoliberalen EU-Integrationsprojekts. Ob es nun um "Rettungspakete" für Banken, um ein europäisches Konjunkturpaket, um die Abwehr von Staatsbankrotten in Osteuropa oder um neue Regeln für die Finanzmärkte geht: Überall zeigt sich, dass die EU zu einer gemeinsamen Krisenbewältigung kaum in der Lage ist. Stattdessen dominieren nationale Alleingänge und eine Politik des "Beggar my Neighbour", bei der jede Regierung versucht, die Krisenlast auf andere Staaten abzuwälzen. Anscheinend haben sich die EU-Staaten so sehr dem Ziel der "Wettbewerbsfähigkeit" und der ungezügelten Konkurrenz im Binnenmarkt verschrieben, dass sie nun unfähig sind, die nationalistische Standortlogik zu überwinden und zu solidarischem Handeln zurückzufinden.
Allerdings sind die neoliberalen Grundpfeiler der EU durch die Krise auch schwer erschüttert worden. Dies gilt für die europäische "Schuldenbremse" in Form des Stabilitätspakts, der von kaum einem Staat noch eingehalten werden kann. Dies gilt für die europäische Wettbewerbspolitik, die durch gigantische "Rettungspakete" für die Banken ad absurdum geführt wurde. Dies gilt für den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs, der zur Ausbreitung und Verschärfung der Finanzkrise erheblich beigetragen hat. Und dies gilt für das in den europäischen Verträgen verankerte Schuldenverbot, das es der EU nun fast unmöglich macht, durch ein eigenes Konjunkturprogramm der Krise gegenzusteuern. Nun bleibt zu hoffen, dass die EU aus ihren Fehlern lernt und den neoliberalen Irrweg verlässt, der immer wieder zu Krisen führt. Statt eines Stabilitätspakts, der den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten in Krisenzeiten unnötig einengt, bräuchte die EU einen Sozialpakt, der soziale Grundrechte (auf Arbeit, Wohnen, Bildung und Gesundheitsversorgung) garantiert. Statt einer Wettbewerbspolitik, die zur Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Güter führt, sollte die öffentliche Daseinsvorsorge gestärkt und von den Binnenmarkt-, Wettbewerbs- und Vergaberegeln ausgenommen werden. Statt den Unternehmen unbegrenzte Freiheiten zu gewähren, muss eine soziale Fortschrittsklausel in den EU-Vertrag eingefügt werden, die klarstellt, dass soziale und gewerkschaftliche Rechte in Zukunft Vorrang haben vor der Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Und statt die Verluste privater Großbanken zu sozialisieren, sollte sich die EU für umfangreiche öffentliche Investitionsprogramme stark machen, die den ökologischen Umbau vorantreiben und die sozialen Folgen der Krise abfedern. Dies wird ohne steigende öffentliche Ausgaben nicht zu machen sein. Und damit die zusätzlichen Ausgaben von heute nicht morgen als Rechtfertigung für rabiate Sozialkürzungen dienen, müssen die Großkonzerne und Millionäre entsprechend zur Kasse gebeten werden. Es müssen die für die Krise zahlen, die sie verursacht und von der vorangegangenen Finanzmarktparty am meisten profitiert haben.
Sahra Wagenknecht, MdEP ist Mitglied der Delegation der LINKEN in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament