Zum Hauptinhalt springen
Disput

Verzicht auf Borniertheit

Nachdenken über den Umgang mit der Oktoberrevolution

Von Stefan Bollinger

Rosa Luxemburgs scharfe, aber solidarische Kritik an den Bolschewiki hat in der kritischen Bewertung der Einparteiendiktatur, der überragenden Rolle der Führer, in der Betonung der notwendigen Massenfundierung bleibenden Platz für den Umgang mit der Oktoberrevolution. Andere Ideen, so die von ihr geleugneten nationalen Fragen oder die Ablehnung der Übergabe des Bodens an die Bauern, sind aus dem Blickwinkel einer sozialistischen Langzeitperspektive verständlich. Lenins Pragmatismus lag aber fraglos näher. Rosa Luxemburg taugt nicht als Kritikerin von abstrakten Positionen aus, die Lenin gegenüberzustellen ist. Ihre positive Wertung der Revolution ist in der Schrift »Zur russischen Revolution« ebenso unübersehbar wie der Selbstvorwurf, die Russen alleingelassen zu haben. Für sie ging es um eine »eingehende, nachdenkliche Kritik« an den russischen Revolutionären. Sie verlangte, sich der Rahmenbedingungen zu versichern, in denen der Vorstoß gewagt wurde, »denn nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist die ganze Größe der eigenen Verantwortung des internationalen Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen. Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur Geltung – als eine Grundbedingung, ohne die auch die größte Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen verwickeln müssen.«1

Nie wieder Wer - Wen?

Nach der Niederlage sitzt unser Trauma tief. Gerade jene, die unter realsozialistischen Bedingungen gewirkt haben, die spät, zu spät die Notwendigkeit einer antistalinistischen, demokratisch-sozialistischen Revolution erkannten und im Herbst 1989 in der DDR mit praktizierten, wurden erneut enttäuscht. Wieder hingen nicht ihnen die Massen an. Sie wollten lieber jenen folgen, die eine kapitalistische Restauration anstrebten und keine Experimente.

Unter diesen Vorzeichen sind Bedenken und Neuinterpretationen der Geschichte ebenso notwendig wie weit gefächert. John Reed überliefert in »10 Tagen, die die Welt erschütterten« jenen einfachen Soldaten, der gegen die Kritik an den Bolschewiki beharrte: »Nur zwei Klassen, und wer nicht auf der einen Seite ist, der ist auf der anderen.« Ein solches Denken und Handeln konnte verhängnisvoll, tödlich sein. André Brie hat kürzlich in der Kritik an Parteifreunden deutlich gemacht, dass »schablonenhafte(s) Denken in Schwarz-Weiß, Freund und Feind nicht endgültig überwunden« ist und nicht begriffen wird, »dass niemand von uns die Wahrheit für sich gepachtet hat.« Er kritisiert jene, die meinen, dass es nicht gut wäre, »die Grenzen zwischen Gut und Böse« verschwinden zu lassen. »So habe ich auch einmal gedacht. Es war verhängnisvoll. Wir kritisieren das Schwarz-Weiß-Denken des George Bush und praktizieren es selbst.«2 Nun trifft der Vorwurf einstige Sozialdemokraten, die sich auf einmal am linken Flügel der LINKEN wiederfinden, weil sie versuchen, am Klassenkampf festzuhalten.

Die Angst, alles in ein »Wer - Wen?« pressen zu müssen, ist unverkennbar, gab 1989 den »3. Wegen« Auftrieb. Die hatten allerdings, was offensichtlich verloren geht, weniger den Verzicht auf eine Alternative zum Kapitalismus gemeint als vielmehr den Verzicht auf jene mit dem Stalinismus verbundene Sackgasse des Staatssozialismus. Positiv ging es um die Öffnung für eine breite sozialistisch-pluralistische Kapitalismusalternative jenseits der Verdikte seit der Spaltung der Arbeiterbewegung 1914 und Lenins Fraktionsverbot 1921. Die Offenheit für eine Vielfalt von Lösungen, der Verzicht auf ideologische Borniertheit kann und muss ein Vorzug geläuterten linken Denkens und Handelns sein. Ob das aber in jeder Situation möglich ist, ob nicht auch Zuspitzung, Polarisierung und Konfrontation zu linker Politik gehören? Zumal in Situationen, wo Veränderung nötig, Widerstand real, Klassenkampf ernst wird?

Gerade weil die Opfer und Verbrechen einer Ordnung, die Ausbeutung und Unterdrückung abschaffen wollte, unübersehbar sind, sind sie nur problematisch aufrechenbar gegen die zumindest zeitweise wirksame Vorbildfunktion und die praktischen Verbesserungen im Leben unterm Roten Stern im Ostblock. Dieses Leben brachte zivilisatorische Leistungen hervor und hatte Fern- und Beispielwirkung auch auf die westlichen Länder und ihre Arbeiterbewegung wie auf die Befreiung der Kolonien dieser Welt.

Heute sind einige Phänomene zu beobachten, die auf ein undifferenziertes und nicht immer methodisch und politisch eindeutiges Verhalten zur eigenen Geschichte hindeuten. Es rächt sich die überzogene Abrechnung mit der bislang bei Linken vorhandenen ideologischen Fundierung eigener Politik und Geschichtsbetrachtung zugunsten einer eher positivistischen und gelegentlich eklektizistischen Betrachtung. Die nach dem Scheitern des Realsozialismus zwingende Ablehnung von falschem Bewusstsein, von instrumentalisiertem und verknapptem »Marxismus-Leninismus« verbindet sich zu oft mit einem generellen Verzicht auf den marxistischen Kern dieser verfälschten und verkürzten »Ideologie«. Der Abschied vom »M/L« war notwendig, weil praktisch die Selbstanwendung auf die eigene Gesellschaft und Bewegung tabu war. Ungewollte Entwicklungen wurden verdrängt, zumal, wenn nicht in das Gehäuse einer parteihörigen »Theorie« passend. Verabschiedet wurden aber auch die Marx’schen Kerntheoreme eines dialektischen, materialistischen und historischen Umgangs mit Geschichte und Gesellschaft, auch der gescheiterten eigenen.

Heute dominiert eine Geschichtsschreibung, die von links wie rechts das Denken in Alternativen befördert. Das kann positiv sein, wenn es nicht zum Wunschdenken, sondern zum Verfolgen jener gescheiterten Ansätze führt. Offenheit der Geschichte gilt nicht nur nach vorn. Aber es sollte auch gefragt werden, warum sich bestimmte Alternativen, Konzepte und Persönlichkeiten nicht durchsetzten. Zudem werden jene Vorgänge, die vor 1989 als bemerkenswert, als entwicklungsdiktatorisch auch bei strengen Kritikern des Realsozialismus durchgingen, nun in die Ecke des Totalitarismus, des Gott-sei-bei-uns gesteckt. Die Revolutionäre hätten nicht zu den Waffen greifen sollen, es wäre uns vieles, alles erspart geblieben ...

Ein neuer Geschichtsutopismus?

Es kehrt erstens utopisches Denken nun als rückwärtsgewandtes Alternativdenken wieder. Im Gegensatz zur Realgeschichte werden jene unterlegenen Strömungen, Persönlichkeiten und Programme herausgestellt, deren Erfolg in der einen oder anderen Weise etwa mit heute wünschenswerten Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung für einen demokratischen Sozialismus korrespondieren. Konsequent gedacht, ständen so Stolypin für einen Kapitalismus mit gewissen demokratischen Grundregularien, Menschewiki wie Sozialrevolutionäre und der Februar für einen gemäßigten, reformorientierten Weg zu einer anderen Gesellschaft. Aber: Weder Friedens- noch Bodenfrage wurden bis zum Oktober '17 gelöst.

Zweitens lässt die verständliche Zuwendung zu hoch stehenden ethischen Prinzipien zu oft die konkreten historischen Zeitläufe und die Erfahrung blutiger Weltkriege, Unterdrückung und Pseudodemokratie außer Acht.

Damit verbunden ist drittens eine Neubewertung von Gewalt – gebrochen am Trauma von Stalinismus und Nuklearkriegsangst zu Zeiten der Systemkonfrontation. Allerdings ist diese humanistische Ablehnung von Gewalt nicht in Übereinstimmung mit zeitgenössischen noch heutigen gesellschaftlichen Prozessen zu bringen. Vor dem Hintergrund zweier imperialistischer Weltkriege mit industrialisierter Massentötung, dem Gräuel der Kolonial- und Bürgerkriege (die immer zwei Seiten führten), der Unterdrückung sozialer wie politischer Bewegungen ist die Geschichte anders gelaufen und läuft sie auch heute – mit nun neuen Etiketten – weiter.

Viertens hegen gerade Linke eine nachvollziehbar hohe Sympathie für jene Ansätze »3. Wege« und anarchistischen Verhaltens oder damals gescheiterter Parteifraktionierungen – ohne zu fragen, warum sie scheiterten, warum sie sich damals nicht durchsetzten. Alles auf List und Terror eines Stalin oder Mao zu schieben ist wenig materialistisch.

Fünftens geht die notwendige Kritik an den Mitteln und ihrem Missbrauch in der politischen Umwälzung nicht immer einher mit dem Begreifen von Dimension und Tiefe des Bruchs solcher Umwälzungen. Zuwenig wird über den Zusammenhang von physischer und struktureller Gewalt bei der Umwälzung bzw. Bewahrung dieser Strukturen nachgedacht.

Um noch einmal an Luxemburgs fundamentalen Unterschied zur bolschewistischen Praxis und ihre grundlegende Übereinstimmung mit diesem im Ziel der Überwindung der Ausbeutergesellschaft zu erinnern: »Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung derDemokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.«3

Dr. Stefan Bollinger, Politikwissenschaftler, hat bei Helle Panke e.V. zum Thema aktuell vorgelegt: Die Oktoberrevolution im Widerstreit. Hoffnungen und Irrwege. Pankower Vorträge, Heft 106.

1 Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution. In: GW Bd. 4., S. 334.

2 André Brie: Denken in Schwarz.-Weiß. In: Der Spiegel. Hamburg. Heft 31/2007, S. 34.

3 Luxemburg: Zur russischen Revolution. A.a.O., S. 363 f.

Zurück zum Seitenanfang